Wie für einen italienischen Gastarbeiter Singen zur zweiten Heimat wurde
»Der gegenseitige Respekt ist die wirkliche Integration«

Vito Giudicepietro | Foto: Vito Giudicepietro ist stolz auf das, was er durch Vertrauen in die Gesellschaft für seine Mitbürger erreicht hat. swb-Bild: ver
  • Vito Giudicepietro
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Singen. Wir schreiben das Jahr 1964. Genauer: der 14. September. An diesem schicksalhaften Tag stieg ein erst 16-jähriger Vito Giudicepietro mit seinem Onkel in einen der vielen Züge, die das »Wunderland«, auch Deutschland genannt, zum Ziel hatten. »Ich wollte eigentlich nur meinen Bruder besuchen, der nach Deutschland kam, um als Gastarbeiter die Familie finanziell unterstützen zu können«, berichtet Giudicepietro. In den 60er Jahren kamen viele junge Italiener nach Deutschland, um hier etwas Geld dazu zu verdienen. Alle 14 Tage hat man etwa 120 Deutsche Mark nach Italien geschickt, um die Familie zu unterstützen. Dabei wusste man nie, wie lange man bleiben würde. Es konnten Tage, Wochen oder auch Jahre werden.

Sein Bruder, der damals in der Alusingen tätig war, nahm ihn mit, um ihm seinen Arbeitsplatz zu zeigen. Mit Bewunderung, aber auch ein wenig Angst, betrachtete der junge Giudicepietro diese großen Maschinen, die Aluprofile herstellten. So kam es, dass der Abteilungsleiter, der ein bisschen italienisch konnte, ihn fragte, ob er nicht auch arbeiten möchte. Zuerst war er einige Minuten lang sprachlos. »Dann dachte ich mir: Warum nicht? Ich könnte mir hier ein bisschen Taschengeld für meine Weiterbildung in Italien dazu verdienen«, so Giudicepietro. Und dann erging es ihm wie viele seiner Mitstreiter auch: aus den angedachten zwei Wochen wurden über fünf Jahrzehnte.

»Es war eine sehr schwierige Zeit«, erinnert er sich zurück. »Die Deutschen waren kalt und zurückhaltend. Man hat sich einsam gefühlt, im Unternehmen wurdest du nur als fremde Arbeitskraft gesehen. Außerhalb vom Betrieb warst du auf dich allein gestellt.« Es wurden nur Ehemänner nach Deutschland geholt, Frauen und Kinder ließ man in Italien zurück. Das lag eben auch daran, das man eigentlich nur für einen kurzen Zeitraum im Wunderland verweilen sollte. »In den ersten zehn Jahren kannte ich nur die nötigsten deutschen Wörter. Das lag vor allem daran, dass die Firmen »ausländische Viertel« aufgebaut haben, sodass man sich in seiner Muttersprache unterhalten konnte. Wir hatten aber auch kein Interesse daran, die deutsche Sprache zu lernen, da wir ohnehin nicht mit den Deutschen zusammengearbeitet haben. Du wurdest nicht integriert. Außerdem mussten wir jederzeit damit rechnen, wieder zurück in die Heimat geschickt zu werden.«

Später merkte die Industrie, dass alle Gastarbeiter der Welt nicht viel nützen, wenn man sie nicht richtig anlernte. Zu diesem Zweck wurden in den 70er und 80er Jahre sogenannte Werkswohnungen gebaut, in denen auch die Ehefrauen wohnen konnten. Die Kinder blieben vorerst bei den Großeltern im Süden zurück, weil die Wohnungen zu klein waren. »Die Kinder hatten jedoch große schulische Probleme, weil sie kein Deutsch konnten und sich niemand darum kümmerte«, weiß Giudicepietro. Aber auch für die Gastarbeiter selbst, war es alles andere als einfach. »Ich weiß noch, wie ich mit Dokumenten ins Bürgerbüro ging, und der Dame in meinem schlechten deutsch versucht habe zu erklären, ob sie mir beim Ausfüllen helfen könne. Ihre Antwort: Wenn Sie kein Deutsch können, gehen Sie doch zurück nach Italien.«

Da wusste Giudicepietro, dass er etwas tun müsse. Für sich und seine Landsleute. Er begann, sich für die deutsche Kultur und Sprache zu interessieren, suchte das Gespräch mit deutschen Staatsbürgern. Er kämpfte für politische Akzeptanz. Fünf Jahre war er Stadtrat in Singen. »Sinn meiner Kandidatur war Anerkennung und Respekt. Wenn du dabei bist und dich für Dinge einsetzt, das ist Integration. Die anderen sind nicht anders, sie haben nur eine andere Sichtweise.« 1978 gründete er den Verein A.C.R.E.I., den »Verein für Kultur Freizeit ausgewanderter Italiener«. 1983 brachte er die Sozialbetreuungsstelle Patronato I.N.C.A. nach Singen - die Anlaufstelle für behördliche Erledigungen und Rechtsangelegenheiten. »Ich bin stolz auf das, was ich für unsere Gesellschaft geleistet habe«, so Giudicepietro, der mittlerweile die doppelte Staatsbürgerschaft hat. »Singen ist zu meiner zweiten Heimat geworden. Der gegenseitige Respekt ist die wirkliche Integration«, weiß Giudicepietro.

- Stefan Mohr

Autor:

Redaktion aus Singen

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