Liebe Leserinnen und Leser,

Corona dient manchen dazu, Machtverhältnisse zu verschieben, oft weitgehend unbemerkt, weil wir uns selbst allzu sehr ablenken. Unter anderem mit Diskussionen, die wir führen und die allzu oft nicht die Wesentlichen sind, während an anderen Stellen wirklich Grenzen verschoben werden.

Macht bedeutet heute vor allem, die Deutungshoheit zu haben, das heißt, die Dinge so zu beschreiben und zu emotionalisieren, wie es der eigenen Agenda dient. Und eigentlich sind in unserer Demokratie genug Regeln eingebaut, dass diese Deutungshoheit immer auch ein Gegengewicht hat, nämlich die kritische Interpretation der Opposition oder der freien Medien oder für einige Tage im Jahr die humorvolle Interpretation der Realität durch die Narren.

Die Narren haben es dieses Jahr schwer: Die Fastnacht ist genauso wie die Kultur eigentlich im Lockdown. Eigentlich deshalb, weil die Narren der Region sich einiges haben einfallen lassen. In den Städten Radolfzell, Stockach und Singen sind die Fastnachtsfiguren in den Schaufenstern der ebenfalls geschlossenen Geschäfte zu sehen: Klare Kante gegen das Vergessen, dass es da noch so etwas wie Leben in der Region gibt, das man nicht einfach sterben lassen sollte, für das der Staat eine Verantwortung trägt, es am Leben zu erhalten, wenn er es durchaus verständlicherweise in seinen Freiheiten beschneidet.

Wir haben indes schon im Januar, bevor wir nun seit Anfang Februar den Wochenblattbetrieb deutlich herunterfahren mussten, um die nächsten Wochen angesichts der aktuellen Coronapolitik finanziell zu überstehen, eine besondere Fastnachts-Ausgabe vorbereitet. Die Hälfte der Zeitung, die Sie gerade lesen, besteht somit aus der auflagenstärksten Narrenzeitung der Region, die in über 86.000 Haushalten verteilt wird, mit exklusiven Beiträgen aus dem Hegau, aus Radolfzell, aus Stockach und aus Singen. Das Stockacher Narrengericht hat dafür eigens eine Narrengerichtsverhandlung gegen das Coronavirus geschrieben, der Radolfzeller Kappedeschle ist in die Bütt gegangen für Sie in den Haushalten und die Singener Poppelezeitung, die jedes Jahr über das Wochenblatt verteilt wird, ist dieses Jahr für alle Haushalte zu lesen. An die Narren für all die Zusammenarbeit ein herzliches Dankeschön.

Zudem haben sich unsere Jungen etwas einfallen lassen, damit wir alle die Narrenkappe zumindest virtuell aufsetzen können (siehe Titelseite der Narrenzeitung). Auch die Narren-zeitung ist wie vieles als Zeitung 2.0 aufgemacht: Mit den QR-Codes auf den Seiten kommen Sie mit Ihrem Smartphone direkt auf Videos zu den Beiträgen und – zur eigenen Narrenkappe auf dem Kopf. Wir wünschen eine glückselige Fastnacht! Feiern Sie, aber feiern Sie bitte so, dass die Coronazahlen weiter sinken.

Ebenfalls normalerweise hätten wir in der Scheffelhalle am politischen Aschermittwoch nächsten Mittwoch ein bisschen Macht. Die Macht, die richtigen Fragen zu stellen zu einem aktuellen Thema. Diese Veranstaltung, die der frühere geschäftsführende Verlagsleiter des Wochenblatts, Peter Peschka, ins Leben gerufen hat, muss dieses Jahr ebenfalls dem Lockdown weichen. Dieses Jahr hätte sich die anstehende Landtagswahl angeboten. Als Ersatz gibt es ab jetzt jede Woche eine Seite. Von unserer Seite ist das Motto klar: Klartext. Zumindest haben wir uns in unseren Redaktionssitzungen Zeit dafür genommen, Fragen so klar zu stellen, dass sie auch klar beantworten werden können. Wir wollen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, Klartext bieten und hoffen, dass die Kandidatinnen und Kandidaten mitspielen. Weil wir das Gefühl haben, dass das manchmal übliche politische Geschwurbel und lange Termine mit fehlender politischer Sachkompetenz gerade nicht in die Zeit und zu unseren Gefühlen passen, so funktioniert ein Wahlkampf nicht, der in diese Zeit passt. Irgendwie denken wir, man muss da schon wissen, was wer wirklich bietet, bevor man am 14. März zur Wahl schreitet.

Dabei geben wir zu, dass es uns einigermaßen schwerfällt, zu entscheiden. Wir suchen nach den Perspektiven, die wir wirklich wählen möchten und tun uns schwer. Das Vertrauen in die Politikerinnen und Politiker sinkt in der Bevölkerung. 54 Prozent der Deutschen hatten Ende Januar Angst davor, dass die Politikerinnen und Politiker überfordert sind in der Coronakrise, das sind mittlerweile mehr, als Angst davor haben, eine schwere Erkrankung / eine Coronainfektion zu erleiden (siehe Zahlen der Woche auf Seite 7).

Susanne Eisenmann, Spitzenkandidatin der CDU im Land, hat dessen ungeachtet, ihre eigene Werbelinie präsentiert: Sie präsentierte dieser Tage stolz ein Wahlplakat mit dem Slogan »Wollen wir nicht alle beschützt werden?«. Unsere Antwort: Nein, wollen wir nicht, wir wollen bald wieder Verantwortung leben können und (bitte nur in dieser Kombination) Freiheiten genießen. Und wenn »beschützt werden«, dann bitte von einem Staat, dem es gelingt, eine sinnvolle Impfstrategie umzusetzen, Hilfen so auszuzahlen, dass nicht unzählige Unternehmerinnen und Unternehmer samt Mitarbeitern ohnmächtig zu-schauen müssen, wie das Geld einfach verschwindet und damit auch die Arbeitsplätze und die wirtschaftlichen Existenzen, und von einem Staat, der Steuergerechtigkeit herstellen kann. Doch dazu müsste erst die Bürokratie auf den OP-Tisch und müssten die Beraterstäbe in Berlin und Brüssel auf Vordermann gebracht werden. Der Slogan auf dem Wahlplakat? Zumindest einfach fehl am Platze in dieser Situation …

Indes fällt der hiesige Bundestagsabgeordnete Andreas Jung (ebenfalls CDU) dadurch auf, dass er sich dezidiert um einzelne Probleme kümmert, um Wahrnehmung dessen, was vor Ort ist, kämpft und zum Beispiel nach der Eröffnung des Karrieretages im Stockacher Berufsschulzentrum am Freitag selbst Bilanz zog, in der unter anderem stand: »Das Internet muss in der ganzen Region schneller werden«, es gab deutliche Ruckler bei der Liveübertragung der Eröffnungsdiskussion. Deutschland ist weltweit, was die Internetgeschwindigkeit angeht, gerade einmal auf Platz 25. Mit Musterland hat das wenig zu tun …

Ja, man würde sich in dieser Krise von Politikerinnen und Politikern etwas mehr öffentliche Reflektiertheit, etwas Demut angesichts der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Probleme, die diese Krise bedeutet, und den Mut, auch klar zu Fehlern zu stehen, wünschen, damit diese Fehler dann konsequent angegangen werden können. Schlimm ist, wenn durch Slogans wie »Wollen wir nicht alle beschützt werden?« zum einen Eigenverantwortung und Freiheit verhöhnt werden und zum anderen eine Erwartungshaltung geschaffen wird, die der Staat in einer unsicheren Zeit wie dieser gar nicht befriedigen kann.

Gefährlich ist, wenn sich der Staat durch Lockdownmaßnahmen auf den Chefsessel von unzähligen Unternehmen setzt und dann beim Ausgleich der entstehenden Schäden und beim Weg aus der Krise gleichzeitig patzt und selbst noch zusätzlich für eklatante Wettbewerbsverschiebungen sorgt, bei denen die Unternehmen nur noch tatenlos zuschauen können und sogar Grundrechte angetastet werden:

Voraussichtlich am heutigen Mittwoch wird das Landgericht München I ein Urteil in einem ganz besonderen Fall sprechen. Der Burdakonzern, großes Medienhaus (Focus, netdoctor, Xing) in Deutschland, hat geklagt, weil er damit ein Zeichen setzen wollte gegen einen der offensichtlichsten Affronts gegen die Intention der Grundgesetzmacher, die die Krise gesehen hat: Das Gesundheitsministerium und Google haben dafür gesorgt, dass das Gesundheitsministerium mit seinen amtlichen Informationen bei Suchanfragen bei Google zum Thema Corona immer ganz oben steht, über allen Suchergebnissen und allen Links, die man bei dem Quasi-Monopolisten Google für teures Geld kaufen kann (Aktenzeichen: 37 O 15720, 37 O 15721/20). Verlinkt ist auf gesund.bund.de, außer Kraft gesetzt ist damit faktisch die freie Berichterstattung der Presse und die Vielfalt der Deutungen, die eine Demokratie braucht. Der Staat will in der Coronakrise in diesem Fall offensichtlich selbst die Deutungshoheit haben und offensichtlich sogar die alleinige. Besonders pervers: Auf EU-Ebene werden Mittel und Wege gesucht, die Allmacht des Googlekonzerns einzugrenzen, weil man sich der Gefahr bewusst ist, und Jens Spahns Gesundheitsministerium nutzt genau diese Allmacht, um Meinungsvielfalt kleinzuhalten ... Dem Burdakonzern geht es um nicht weniger als darum, dass die Presse eben weiterhin die Chance haben muss, abseits von staatlicher Finanzierung oder Finanzierung durch Mäzene oder Despoten als freie Wirtschaftsunternehmen zu agieren, eben unabhängig, vielfältig finanziert und ohne dass der Staat auf eklatante Weise in den Wettbewerb eingreift.

Zugegebenermaßen sind wir gerade sehr nachdenklich und wünschen Ihnen und unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, auch und gerade denen, die in Kurzarbeit sind, trotz allem gerade in der Fastnachtszeit ein bisschen Leichtigkeit. Unsere Seelen brauchen diesen Ausgleich …

Carmen Frese-Kroll, Verlegerin
Anatol Hennig, Herausgeber
Oliver Fiedler, Chefredakteur

Autor:

Redaktion aus Singen

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