Liebe Leserinnen und Leser

Wir schreiben Woche neun, seit klar ist, dass der Coronavirus und unser Umgang damit unser Leben wesentlich verändern wird. Eine der vielen Veranstaltungen, die in der Region abgesagt worden sind, hieß »Vom Ich zum Wir«. Sie sollte in der Stadthalle in Singen stattfinden und war als Unternehmerforum gedacht.

Und es schien fast so, als würde der Virus und unser Umgang damit den Titel der Veranstaltung bestätigen: Als es einen breiten Konsens gab, Infektionen zu verhindern UND die lokale Wirtschaft zu unterstützen, die die Folgen des Lockdowns ertragen muss, da wurden viele Ichs zum Wir – und wir dachten: schön, so weit sind wir in der Gesellschaft, wie erwachsen.

Mittlerweile sieht das anders aus. Ganz anders. Verschwörungstheoretiker heizen sowieso schon auch vor der Krise vorhandene Stimmungen bei denen an, die sich zu kurz gekommen fühlen, Rechts-und Linksextremisten nutzen die Demonstrationen von eigentlich friedlichen Bürgern, um Fans für ihre umstürzlerischen Ideen zu akquirieren. Dabei demonstrieren diese Bürger vor allem für ihre Bürgerrechte, oft haben sie das Grundgesetz dabei unter dem Arm. Viele suchen allerdings nur die Passagen raus, die ihnen gerade in den Kram passen, also in ihren persönlichen Kram. Auch in den Diskussionen, die man da auf den Socialplattformen erlebt, ist das meistens so. Und dass persönliche Betroffenheit gerade eine große Rolle spielt, ist in Ordnung so: Großteile der Bevölkerung sind ja keine Rechtswissenschaftler, Politiker oder gar Systemtheoretiker, sondern kämpfen einfach für ihre Freiheit. Wenn da nicht die wären, die die immer aggressivere Grundstimmung nutzen würden, um ihre schrägen Ideen nach vorne zu bringen, die uns so sicher auch nicht weiterbringen als Gesellschaft und viele Bürger nicht völlig überfordert wären von der Flut scheinbarer Fakten. Warum? Den Verschwörungstheoretikern und den extremistischen Umstürzlern fehlt indes vor allem eines: das Zeug zur Verantwortung. Sie machen es sich einfach und schaden damit der Demokratie, indem sie die Institutionen angreifen, die mit ihrem Input überhaupt für Demokratie sorgen: Gerichte, die Wissenschaft und die Medien (und damit meinen wir nicht die Teil-, Hate und Likemedien, sondern journalistische Medien).

Was hilft: Differenzierte Wahrnehmung und wirkliches Hinterfragen von Fakten, Logiken und vor allem von Motiven derer, die etwas behaupten, sagen, die Zahlen nennen etc. als oberste Bürgerpflicht. Manchmal hat man in diesen Tagen nicht zuletzt den Eindruck, dass unsere zahlengetriebene Welt auch in der Krise nur eines kann: Zahlen produzieren. Dass die alleine ohne eine offene Diskussion über Werte und Haltungen nirgends hinführen, müsste eigentlich langsam klar werden. Verantwortung wäre so ein Wert, den wir in die Waagschale werfen würden.

Viele Politiker, auch in der Region, zeigen in der Krise klare Haltung und kümmern sich um viele Ichs und damit um das Wir, andere Politiker und Staatsdiener (auch in der Region) kümmern sich auch in der Krise vor allem um ihre Selbstdarstellung (also um ihr eigenes Ich und die netten Bildchen in der Zeitung oder auf Instagram) oder gar um so gut wie gar nichts. Manche Lehrer haben sich in der Krise rührend um ihre Schülerinnen und Schüler gekümmert, andere mit einem Schulterzucken ihren Corona-Urlaub ohne Urlaubsschein genossen.

Die Frage, wer unterstützt wird vom Staat in der Krise oder nicht, entzweit die Menschen,
die um ihre wirtschaftlichen Existenzen kämpfen, ein Satz in einer Verordnung lässt Unternehmen sterben oder leben. Die Gastronomie, die in den letzten Jahren viele neue Stellengeschaffen hat, wird einer der ganz großen Verlierer der Krise sein. Die 800 Quadratmetergrenze, wohl begründet, blieb letztlich einfach unfair. Bei den lokalen Medien in Deutschland droht ein Kahlschlag, der vor allem die betreffen wird, die nicht zu den großen Medien-Konzernen im Land gehören – Medienvielfalt ade. Krankenhäuser verlieren viel Geld, weil sie Intensivbetten freigehalten haben oder freihalten für die Coronakranken, die nicht kamen, und die Ausgleichszahlungen für die verloren gegangenen Einnahmen zu gering sind. Menschen sterben, ohne dass sie ihre Angehörigen gesehen haben. Und ja, in Deutschland sind im Vergleich nur wenige gestorben an Covid 19. Bilder wie in Norditalien und New York sind uns erspart geblieben.

Der Staat, der eigentlich wir alle sind, entscheidet gerade in Windeseile, wer Geld bekommt und wer nicht, welche Branchen mit großzügigen staatlichen Mitteln überleben und welche alleine kämpfen dürfen, ob Konzerne oder der Mittelstand unterstützt werden und sie bestimmen gerade die Welt nach Corona. Weitgehend unter (selbstverschuldetem) Ausschluss der Öffentlichkeit, weil die Öffentlichkeit weiter damit beschäftigt ist, sich mit Corona auseinanderzusetzen und viele jetzt selbst Virologen werden wollen.

Wir glauben, es ist gerade viel wichtiger zu schauen, was für Weichen momentan in der Region, in Stuttgart und in Berlin gestellt werden und sich daran aktiv politisch zu beteiligen oder zumindest kritisch wahrzunehmen, wie die Zukunft nach Corona entsteht. Sonst könnte es sehr viele Überraschungen geben.

Und wir glauben, dass es wichtig ist, dass sich jeder einzelne auch mit seiner eigenen Zukunft beschäftigt, die er nämlich letztlich selbst verantwortet.

Für alle, die Verantwortung für andere tragen in der Region und im ganzen Land, wird es indes ein Riesenakt werden, diese vielen Ichs, auch die vielen jetzt alleine gelassenen Ichs, wieder zum Wir zu machen. Und das wird ohne Diskussion und ohne eine lebhafte Auseinandersetzung, was Gerechtigkeit für die Ichs ist und für ein neues Wir wäre, nicht gehen.

Damit das gelingt und damit auch aus den Geretteten und den Ruinen staatlicher Entscheidungen unter leider schlechten Rahmenbedingungen in Sachen Digitalisierung da etwas Gutes entsteht, brauchen wir übrigens auch: verrückte Querdenker. Wenn möglich solche, die auch Verantwortungsbereitschaft für die Folgen ihres Tuns mitbringen.

Und letztlich sind es eben viele Ichs, die ein Wir wachsen lassen. Ichs, die Beiträge leisten, die für andere wertvoll sind. Das ist es, was es jetzt braucht.

Und wir enden mit Loriot: »Intelligente suchen in den Krisenzeiten nach Lösungen, Idioten nach Schuldigen«. Suchen wir nach Lösungen, kritisch, uns gegenseitig ehrlich konfrontierend, konstruktiv und so, dass wir in der Welt, die wir uns da gerade zusammenreimen, auch wirklich leben möchten.

Eine gute Woche und bleiben Sie zuversichtlich.
Carmen Frese-Kroll, Verlegerin
Anatol Hennig, Verlagsleiter
Oliver Fiedler, Chefredakteur

- Verlag Singener Wochenblatt

Autor:

Redaktion aus Singen

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