Leserbrief von Bernhard Narr zum ECE Bürgerentscheid
»Na, dann her damit«

Symbolbild | Foto: Symbolbild

Singen/Rielasingen(swb). Zum anstehenden Bürgerentscheid vom 17. Juli für das Shoppingcenter von ECE in Singen wird uns geschrieben:

„Entwickelt aus der DNA der Stadt“ ist ein Leitsatz der ECE- Projektvorstellung. DNA ist die Erbinformation eines Organismus, hier einer Stadt. Das sind Regeln, die zu einem funktionierenden Gesamtorganismus führen sollen. Das übliche Instrument dazu sind Bebauungspläne. In Singen öffnet man traditionell viele Optionen für Investoren, verzichtet daher auf begrenzende Verbote, was einmal fast zu einer Müllverbrennungsanlage führte.

Nötig sind langfristig geltende Leitlinien für ein nachhaltiges Gesamt-Stadt-Entwicklungs-Konzept, das soziale, demografische, wirtschaftliche, gestalterische, verkehrliche u.a. Belange umfasst. Hätte Singen eine solche Leitlinie, wären Bauwerke wie zum Beispiel Hegau-Tower, Conti oder Holzerbau undenkbar. Das Fehlen einer Leitlinie führt immer wieder zu örtlichen Einzellösungen, die am Ende eine Stückwerk-Stadt hinterlassen. Ohne Leitlinie fällt Gemeinderäten eine Einzelfallentscheidung schwer. Sie sind keine Stadtplaner und bei der Planungs-Komplexität (ohne Vorwurf) überfordert.

Das ECE will sich am „vulkanischen Erbe des Hohentwiel“ orientieren. Tatsächlich errinnert die Fassadenfarbe an Phonolith. Da der Hohentwiel jedoch ein erst durch Erosion freigesetzter Vulkanschlot ist, gab es hier nie sichtbares, glühendes Magma als ECE-Farbvorlage. Dumm gelaufen als Erbe.

Trotzdem ist die architektonische Qualität der ECE-Fassade hoch. In Singen ist solche Bau-Qualität selten. Nur die ECE Kubatur sprengt in Singen alle Vorgaben.

Die ECE-Prachtfassade zur Fussgängerzone hin hat aber auch einen ECE-Hinterhof im Osten, wo die Zulieferung angedacht ist. Hier entstehen nur schwer lösbare Verkehrsprobleme. Die Gestaltung des Bahnhofsplatzes leidet darunter.

Tatsächlich wird am Bahnhof beim Verkehr geaast: Eine Bahnhofstrasse mit nur 2 abzweigenden Strassen braucht plötzlich 3 Kreisel, damit sie mit Bussen funktioniert. Bei sorgfältiger Analyse entdeckt man noch einen 4. langgezogenen Kreisel für Bus- und Taxiverkehr (Bahnhofstrasse und neue Fahrspur vor dem Bahnhof), der dann „rechtsrum“ statt wie beim Kreisel üblich „linksrum“ funktionieren soll. Wieder eine Singener Einzellösung wie mal der Obi-Kreisel. Die Bahnhofsvorplatzplanung muss die Hinterlassenschaften der ECE-Riesenkubatur irgendwie lösen. Das gelingt real nur durch neue Verkehrsflächen. Na ja, das dort geplante Dach versteckt alles ja wieder.

Radfahren stört hier. Lässt man als nicht integrierbar weg? Gibt es nicht eine Fahrrad-Leitlinie?

500 neue Parkhausplätze sind geplant. Gut so. Eine Strasse gehört auch dem Fussgänger. Aber leider entsteht auch zusätzlicher Verkehr. Werden z.B. alle Parkplätze nur 4 mal pro Tag benutzt, entsteht zusätzlicher Verkehr von 8x 500 =4.000 Fahrzeugen täglich. Die Bewohner der Bahnhofsstrasse werden Lärm und Schadstoffe aushalten müssen. Und auf gewohnte Parkplätze vor dem Haus verzichten. Ganz ohne Ersatzlösung. Und: bei erlaubten 20 km/h vor dem Bahnhof sind Rückstaus zu erwarten.

Wegen fehlender Leitlinien ist auch die Betrachtung der vom ECE überbauten Thurgauerstrasse spannend. Entsteht hier ein Präzedenzfall für Bauplätze auf öffentlichen Raum – hier einer Strasse? Sollen später dann die unter Stadtplaner Ott sehr breit gebauten Strassen in der Südstadt künftiges Bauland werden? Dann würde auch ein befragtes Regierungspräsidium nur konstatieren können: Ist erlaubt, da vorher beim ECE vollzogen.

Das ECE soll „Markplatz für Singen und seine Bürger“ sein und „öffnet sich mit 6 verschiedenen Eingängen … in alle Richtungen“. Ein Marktplatz, der sich öffnet, muss erst mal geschlossen sein. ECE-Kunden befinden sich also in einer geschlossenen Marktplatzabteilung, dürfen aber durch 6 Öffnungen nach draussen zu anderen Geschäften.

Im ECE ist modernste Kaufen-Infrastruktur Standard. Also: bargeldlos per Smartphone bezahlen, Video- und andere Werbung innen statt Schaufenster draussen, kostenloser Hotspot für Internet im ECE. Natürlich wird es eine Smartphone-App geben, die dann personenbezogene Werbung passend zum gerade besuchten Shop auf das Smartphone zaubert. Tolle neue Welt! Alle Geschäfte draussen sollten die neue Welt nachrüsten, damit sie eine Chance behalten. Ältere Menschen werden sich freuen. Zu Datenschutz, Überwachung und gläserner Mensch sage ich mal gar nichts.

Weiter: „rund 80 hochwertige Shops“ sind geplant. Man redet von Shops der A1-Kategorie. Wer bestimmt, was ins ECE darf? Die ECE-Verwaltung? Der Gemeinderat im Bebauungsplan? Weder noch! Das entscheidet der Kunde. Wenn der viel kauft, kann ein Shop seine Miete nach Hamburg überweisen. Das Kaufen bestimmt das Warenangebot – nicht umgekehrt! Man bedenke: Singen ist eine Arbeiterstadt. Der Geldbeutel hat zu wenig Fächer für schicke Düsseldorfer A1 Mode. Und schon heute versorgt die Verkaufsfläche die Singener Bevölkerung mal 2,5.

Die ECE-Investition mit 140 Millionen Euro muss sich natürlich rechnen. Also: die investierte Summe muss in 20-25 Jahren wieder in Hamburg sein und zusätzlich Zinsen erwirtschaften. Geld, das dann mal in Singen war.

Gemeinderäte haben sich mit grosser Mehrheit für das ECE entschieden. Gemeinderäte wurden gewählt, bekamen so ein Mandat und sind nun vom Wähler ermächtigt, an deren Stelle Entscheidungen mit Wirkung für alle Bürger zu treffen. Sie sollen dabei aber die Interessen aller Bürger berücksichtigen. Nun gibt es Bürger als Befürworter und Gegner. Beide haben gewählt und ein gleichschweres Mandat erteilt.

Wenn nun Gemeinderäte mit finanzieller ECE-Unterstützung mit ihrem Bild und Namen die ECE-Interessen auf Plakaten unterstützen, ergibt das doch ein „Geschmäckle“: Das ursprünglich von allen Bürgern erteilte Mandat gilt plötzlich nur noch für ECE-Befürworter: Die anderen verlieren einfach mal so ihren „Fürsprech“ (wie es ihn in der Stockacher Fassnacht und auch sonst gibt). Die geniale ECE-Lobby-Abteilung hat einen wirklich tollen, weil erfolgreichen Job gemacht.

Einige Gemeinderäte bekunden volles Vertrauen in die Qualität der ECE-Planer und –Projektierer, die viel besser sei, als wenn die Stadt das selber erledigen würde (was wegen Geldmangel sowieso ausscheidet). Das Ende der GVV zeigt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Bei der GVV fehlte dem Aufsichtsrat aus Gemeinderäten der ganze Durchblick beim Verstehen von Bilanzen; man vertraute oder glaubte bestellten Wirtschaftprüfern. Nur eine Gemeinderätin stieg 2009 aus, weil sie alles nicht mittragen konnte. Alle anderen nicht. Kein gutes Omen für so wichtige Entscheidungen.

Gemeinderäte behalten bei so weitreichenden Weichenstellungen ihre alleinige Verantwortung. Daran ändert auch ein Bürgerentscheid z. B. als Alibi nichts. Denn: für Gemeinderatsbeschlüsse zählen nur Stimmen der Gemeinderäte.

Befragte, besonders aber junge Bürger sehen oft nur folgendes: „Neues Kaufhaus? Kostet mich nichts? Hat Internet und kostenlose App für mein Smartphone? Na, dann her damit! Wenn’s dann nicht gut ist, muss ich ja nicht hin.“

Bernhard Narr, Rielasingen

Autor:

Oliver Fiedler aus Gottmadingen

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