WOCHENBLATT-Serie zur Bundestagswahl: Nese Erikli (Bündnis 90/Die Grünen)
Bildung als Schlüssel für Integration

Kreis Konstanz (mu). Im Vorfeld der Bundestagswahl am Sonntag, 22. September, spricht das WOCHENBLATT mit den Kandidaten der einzelnen Parteien und stellt sie im Rahmen einer Serie vor. Heute: Nese Erikli, Bündnis 90/Die Grünen.
WOCHENBLATT: Die Energiewende ist eines Ihrer Herzensprojekte. Welche Schwerpunkte wollen Sie in der Region voran bringen?
Nese Erikli: Die Energiegewinnung muss 100 Prozent erneuerbar werden. Um Deutschland und Europa zukunftssicher zu machen, müssen wir dafür endlich von den fossilen Energieträgern wegkommen. Dies kann nicht gelingen, wenn auf eine Technologie mit unabsehbaren Gefahren für Gesundheit und Umwelt gesetzt wird – Fracking. Dieses Thema betrifft uns ganz aktuell hier in der Region. Und weil Nachhaltigkeit zwar vor der eigenen Haustür anfängt, dort aber nicht endet, spreche ich mich, anders als der Kollege Andreas Jung, deutschlandweit für ein Fracking-Verbot aus.
WOCHENBLATT: Besonders bei der Windenenergie positioniert sich verstärkt Widerstand in der Bevölkerung. Was ist zumutbar und wo liegen die Grenzen dieser Technologie?
Nese Erikli: Vor zwei Jahren, nach den Kernschmelzen der Reaktoren in Fukushima, gab es eine sehr breite Zustimmung für eine Energiewende bei uns in Deutschland. Und die Menschen wollen diese weiterhin. Energiewende bei uns in Deutschland heißt nicht nur Windparks weit draußen vor unserer Küste, sondern auch wir im Süden stehen in der Verantwortung und in der Pflicht, diese kostengünstige regenerative Energieform zu nutzen und für uns alle verfügbar zu machen. Denn im Vergleich zu Energie aus Biomasse und Photovoltaik ist Wind die bei weitem effizienteste und billigste neue Energie – auch bei uns in Baden-Württemberg. Auf einen geeigneten Standort und auf die gleiche Fläche bezogen, ist Wind im Verhältnis 100-fach zu Biomasse und 20-fach zu Photovoltaik physikalisch effizienter. Windenergieanlagen sollen dort gebaut werden, wo sie ökologisch, ökonomisch und sozial in verantwortungsvoller Abwägung Sinn machen. Gute Windanlagen an einem Standort, der möglichst wenige oder/und ausgleichbare Risiken für die Natur hat und mit hoher kapitalmäßiger Beteiligung der ansässigen Bürgerinnen und Bürger realisiert werden, schaffen Akzeptanz und sind ein wichtiger Beitrag für sinnvolle regionale Wirtschaftsförderung und Wertschöpfung. Das Überdenken und die Korrektur der kompletten Ablehnungskultur für diese Energieform aus mehr als 30 Jahren der alten CDU geführten Regierung, ist eklatant wichtig. Und das bedarf Zeit. Denn Planungen mit Augenmaß und Bürgerbeteiligung brauchen ihre Zeit. Möglichst viele Anlagen sollten von den Bürgern selbst initiiert werden, den wir brauchen eine Energiewende auch aus Bürgerhand.
WOCHENBLATT: Ein heikles Thema ist das Atomendlager. Immer wieder ist der Hegau dafür im Gespräch. Wie bewerten Sie diesen Standort?
Nese Erikli: Nach Völkerrecht gilt, wer gefährlichen Müll produziert, muss diesen verantwortungsvoll behandeln/zu entsorgen. Das gilt vor allem für die ungeheuren Mengen und für den 100.000 Jahre tödlich strahlenden Atommüll, den weniger als eine Menschengeneration erzeugt hat. Also jedes Land, egal wie groß, ob die Schweiz oder Deutschland, muss innerhalb seiner Grenzen dafür Sorge tragen, dass nach bestmöglichem Wissen und technisch-wissenschaftlicher Grundlage dafür eine Lösung gefunden wird. Diese Suche sowie der Dialog muss transparent und ehrlich von den politischen Verantwortungsträgern gemeinsam mit den Bürgern geführt werden. Es ist schon merkwürdig, dass sich auch hier als Kritiker oft diejenigen undifferenziert positionieren, die bis vor Kurzem oder immer noch alternative und unschädliche Technologien der Energieproduktion ablehnen. Die Geologie unserer Raumschaft und die theoretisch über lange Zeit gegebene Erdbebengefährdung lässt es wenig wahrscheinlich werden, dass der Hegau oder der Bodenseeraum als möglicher Suchraum für ein Atommüllendlager in die engere Wahl kommen wird. Aber es gilt auch für unsere Heimat, dass auch dieser Raum wie alle Regionen in Deutschland nach objektiven und ehrlichen Verfahren vergleichbar untersucht werden muss. Wir Grünen stellen uns der Verantwortung für diese »ALTLAST«, obwohl wir immer Gegner der Atomkraft waren.
WOCHENBLATT: Die Integrationspolitik liegt Ihnen am Herzen. Was gibt es konkret vor Ort zu verbessern?
Nese Erikli: Integration findet bereits im frühen Kindesalter statt, ein zentraler Ort dafür sind Kitas. Daher fordere ich die Abschaffung des Betreuungsgeldes und stattdessen einen Ausbau von hochwertigen Kitas mit qualifiziertem Personal. So schaffen wir einen Raum der Begegnung und Integration vom Kindesalter an. Denn für mich ist entscheidend, dass Herkunft und Geldbeutel der Eltern nicht über die Bildungs- und somit Zukunftschancen der Kinder entscheiden dürfen. Auch benötigen wir eine Ganztagsbetreuung, um Kinder aus sozial schwachen oder Einwandererfamilien nicht sich selbst zu überlassen. Die Betreuung sowie eine gute Bildung ist der Schlüssel für eine gelungene Integration.
WOCHENBLATT: Seit 1. August gilt der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kinder ab dem ersten Lebensjahr. Wurden die Bedingungen dafür in der Region geschaffen?
Nese Erikli: Derzeit gibt es keine Wahlfreiheit, denn es fehlen noch überall in der Republik Kita-Plätze – so auch in unserer Region. Beispielsweise sind in Konstanz Platz und Raum begrenzt. Die Betreuungsquote im Landkreis Konstanz beträgt bisher nur 37 Prozent für die unter Dreijährigen. Es kann auch nicht sein, dass Kinder in Containern betreut werden. Deshalb möchte ich mich dafür einsetzen, dass das Betreuungsgeld wieder abgeschafft und eine echte Wahlfreiheit geschaffen wird. Zusätzlich möchte ich mich für eine höhere Qualität der Kinderbetreuung einsetzen, denn auch daran mangelt es noch in unserer Region. Wir benötigen endlich mehr hochwertige Kitas und gut ausgebildete sowie bezahlte Erzieherinnen und Erzieher.
WOCHENBLATT: Sind damit Kinder und Beruf für junge Familien besser zu vereinbaren oder muss noch mehr für diese Klientel getan werden?
Nese Erikli: Ich möchte mich für eine echte Wahlfreiheit bei der Kinderbetreuung einsetzen, die es bisher noch immer nicht gibt. Dazu gehört sowohl der Ausbau als auch die Qualität der Kinderbetreuung in unserer Region. Der Rechtsanspruch muss für jedes Kind gelten, um gerade jungen Familien die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf besser zu ermöglichen. Neben der Kinderbetreuung muss auch das Angebot von Ganztagsschulen ausgebaut werden. Ich finde für diese Familien muss noch einiges in unserem Landkreis getan werden.
WOCHENBLATT: Ein weiteres heißes Eisen in der Region ist das Thema Fluglärm. Wie ist Ihre Position zu diesem Thema?
Nese Erikli: Der zunehmende Fluglärm wird zu einem immer größeren Problem. Wir benötigen daher eine Änderung des Fluglärmgesetzes und vor allem einen Staatsvertrag mit der Schweiz, der den Schutz der Menschen als zentrale Aufgabe im Fokus sieht. Der Union waren bisher die wirtschaftlichen Interessen wichtiger, als das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger, weshalb insbesondere der Bundesverkehrsminister, nicht nur bei dieser Angelegenheit, keine gute Figur abgegeben hat. Deshalb fordere ich bei der Nachverhandlung des Staatsvertrags zur Fluglärmbelastung mit der Schweiz von der Bundesregierung vollste Transparenz und endlich Verhandlungen auf Augenhöhe. Das Ziel des neu verhandelten Staatsvertrags muss sein, die deutsche Bevölkerung deutlich vom Fluglärm zu entlasten. Es müssen klare Regelungen zu Flugrouten, Flughöhen sowie insbesondere zur Sicherung der künftigen Mitsprachemöglichkeiten der Region und des Landes gesichert werden.
WOCHENBLATT: Eine never ending Story scheint der Ausbau der B33 zu sein. Wo liegt der Schwerpunkt der Grünen – im Naturschutz oder in der Verbesserung der Mobilität?
Nese Erikli: Grundsätzlich halte ich den Ausbau der B33, neben den Investitionen in die Gäubahn, für notwendig. Deshalb muss der Bund die zugesagten Mittel für den Bundesfernstraßenbau bereitstellen, um die Planungssicherheit für den Ausbau zu gewährleisten. Aber auch hier ist auf die Union und den Bundesverkehrsminister Ramsauer kein Verlass. Ramsauer hat die Mittel für den Ausbau von heute auf morgen gekürzt. Das neue Priorisierungsverfahren des Landes dagegen ist eine Errungenschaft der grün-roten Regierung. Es besteht darin, dass vorab transparente Kriterien vorgelegt und in einem Anhörungsverfahren mit kommunalen Landesverbänden, Umweltverbänden, Wirtschafts- und Regionalverbänden diskutiert werden. Im Ergebnis sind dies sechs Kriterien zur Bewertung der Dringlichkeit von Straßenbaumaßnahmen: »Nutzen-Kosten-Verhältnis« und »Verkehrssicherheit«, die mit jeweils 20% gewichtet werden. Die anderen vier Kriterien »Lärmentlastung«, »Umweltverträglichkeit«, »Verkehrsfluss« und »Netzfunktion«, gehen mit jeweils 15 Prozent Gewichtung in die Bewertung ein. Dadurch möchten wir Grüne den Natur- und Umweltschutz mit Mobilitätskriterien verbinden und eine verträgliche Lösung finden. Auch der Bund sollte endlich verbindliche und vor allem sachliche Kriterien einführen, um Planungssicherheit für die Menschen in der Region zu bieten.
WOCHENBLATT: Baden-Württemberg hat mit Winfried Kretschmann den ersten Grünen Landesvater. Bringt dies Vorteile für Ihre Kandidatur?
Nese Erikli: Die erste grün-rote Landesregierung in der Bundesrepublik zeigt, dass wir Grüne nicht mehr der Bürgerschreck sind. Vielmehr finden unsere Themen und unsere Schwerpunkte ein breites Ansehen in unserer Gesellschaft. Für mich als Grüne Bundestagskandidatin ist das eine große Freude. Wir sind beispielsweise von Anbeginn unserer Parteigründung für den Atomausstieg gewesen und haben einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass dieser heute vollzogen wird. Das ist doch ein toller Erfolg! Besonders freuen mich auch die überaus positiven Reaktionen auf unseren Landesvater Winfried Kretschmann. Ich hoffe, dass die Menschen auch bei der Bundestagswahl am 22. September die Zeit für den Grünen Wandel sehen und viele Menschen im Wahlkreis sowie in ganz Baden-Württemberg die Grüne Politik und somit auch meine ehrenamtliche politische Arbeit vor Ort unterstützen.
WOCHENBLATT: Noch sechs Wochen zur Wahl und die Regierungskoalition hat laut Umfrage eine regierungsfähige Mehrheit. Demotiviert Sie das?
Nese Erikli: Überhaupt nicht! Ich habe seit 19 Jahren ein Grünes Herz und werde dies auch weiterhin in mir tragen. Die Politik ist für mich eine Herzensangelegenheit, für die ich mich mit Leidenschaft einsetze. Es lohnt sich immer zu kämpfen und das war auch in meinem bisherigen Leben mein Credo. Sonst hätte ich es wohl nicht von der Hauptschule bis zum Jurastudium geschafft.
Interview: Ute Mucha

Autor:

Ute Mucha aus Moos

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