Auftakt der "Erzählzeit ohne Grenzen" im Kammgarn
Stimmen, die das Schweigen brechen

Autorin Judith Hermann, während der Lesung aus ihrem neusten Buch "Wir hätten uns alles gesagt" | Foto: Philipp Findling
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  • Autorin Judith Hermann, während der Lesung aus ihrem neusten Buch "Wir hätten uns alles gesagt"
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Schaffhausen. Im Schaffhauser Kammgarn hatte der Auftakt der Erzählzeit ohne Grenzen am Freitag, 24. März, in diesem Jahr wahrlich eine ganz besondere Kulisse. Dass bei kulturellen Veranstaltungen durch die alte Industriehalle einen einzigartigen Kontrast entsteht, wurde auch an diesem Abend bei der Lesung der Autorin Judith Hermann deutlich.

So kam der Saal durchaus an seine Kapazitätsgrenzen und war bis auf den letzten Platz und Winkel mit Zuhörer*Innen gefüllt. Das hob auch Moderatorin Monika Schärer, bekannt aus verschiedenen Schweizer Radio- und Fernsehproduktionen und schon zum wiederholten Mal dabei bei der Erzählzeit, in ihrer Begrüßung hervor.
Bevor die zwei kulturellen Hauptakteurinnen aus Musik und Literatur auf die Bühne traten, nahmen Stadtrat Dr. Raphaël Rohner und Regierungsrat des Kantons Patrick Strasser als Vertreter des politischen Schaffhausens auf der Couch Platz. Im persönlichen Alltag spiele Literatur bei beiden eine wichtige Rolle, so findet Patrick Strasser hier einen guten Gegenpol zur trockenen Bürokratie-Lektüre seiner Arbeit. Es gebe beidseits der Grenze eine besondere kulturelle Affinität, die 14-jährige Tradition der Erzählzeit als eines der daraus entstandenen Projekte untermauere das, so Stadtrat Rohner. Auch Strasser bestätigt: „Die beiden Städte Singen und Schaffhausen sind sehr nahe beieinander, näher als wir mit manchen unserer Schweizer Nachbarn sind.“

Auf der Couch: Dr. Raphaël Rohner (links, Stadtrat in Schaffhausen) und Patrick Strasser (Regierungsrat des Kantons) im Gespräch mit Moderatorin Monika Schärer (ganz rechts). | Foto: Philipp Findling
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Gespräch mit der Autorin

Judith Hermann war als Autorin mit ihrem erst kürzlich erschienenen Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ Gast und Höhepunkt der Eröffnung. Dabei machte sie im Gespräch mit Monika Schärer deutlich, dass dieses Rampenlicht bei Lesereisen und Literaturfestivals für sie vor allem zu Beginn „albtraumhaft“ war. Heute kann sie beidem zumeist etwas Positives abgewinnen, sehe darin „etwas Tröstliches“ und eine „ewig langgezogene, teils gute Trennung von dem Buch. Am Ende gehört das Buch dann dem Leser.“
Auch entwickle sich über die Lesereise eine „Choreografie“, die den Zuhörern einen guten Einblick biete. Im Kammgarn sei es jedoch ihre sechste Lesung aus dem am 15. März erschienenen Buch, sie probiere sich entsprechend noch aus.

Wie das Buch entstand

„Wir hätten uns alles gesagt“ - handelt „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“, mit speziellem Augenmerk auf das Schreiben der Autorin, Judith Hermann. Der Inhalt entstand eigentlich ausschließlich für die Frankfurter Poetikvorlesungen, einer sehr renommierten Veranstaltung, bei der Schriftsteller*Innen einen Einblick in ihr Schreiben geben. Da sich Judith Hermann eher als „Autodidakt“ sieht, habe sie dort von ihrer fehlenden Expertise „ablenken“ wollen und blickte so eher auf ihre eigene Vergangenheit, sowie die ihrer Familie. Hier offenbarte sich „unerwartet Privates“, wie sie selbst in der Einleitung des Buches schreibt.

Die Autorin Judith Hermann vor ihrer Lesung im Gespräch mit Moderatorin Monika Schärer. | Foto: Philipp Findling
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Der Vortrag sollte exklusiv für die Poetikvorlesungen sein, dass dieser veröffentlicht werden würde, war nicht Teil des Plans. „Es sollte ein Text sein, der mir gehört“, berichtet die Autorin. „Hätte ich gewusst, dass es ein Buch wird, hätte ich anders geschrieben.“ Denn zum Ende habe sie festgestellt, dass ihre Worte zwar nicht greifbar, aber auf einer empathischen Ebene doch in den Händen des Publikums gelandet waren.
„Jede Geschichte hat einen Satz“, beschreibt Judith Hermann die Gemeinsamkeit aller ihrer Werke. Während es dabei egal sei, ob dieser aus einem Gespräch stamme oder eine Situation beschreibe, sei der Kern dieses Satzes wiederum nie gleichgültig, sondern lösen bei ihr ein Gefühl aus. Schreiben, um darüber nachzudenken, könne sie deshalb erst mit etwas Abstand: „Wenn man in das Fegefeuer dieser Dinge geraten ist, muss man erst herausgekommen sein.“

Eintauchen

Autorin Judith Hermann, während der Lesung aus ihrem neusten Buch "Wir hätten uns alles gesagt" | Foto: Philipp Findling
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„Je mehr ich erzähle, desto mehr verstecke ich.“ Diesen Satz macht die Autorin in der Lesung der ersten Seiten von "Wir hätten uns alles gesagt" sehr eindrücklich. Während sie eigentlich nur von einem ungeplanten Aufeinandertreffen mit ihrem alten Psychoanalytiker erzählt, verliert sie sich immer wieder in Erzählungen über ihre vergangenen Analysestunden, geschichtenhafte Vergleiche oder Erzählungen über ihre Erzählungen. Aus einem zwar bizarr anmutenden vielleicht 5-minütigen Treffen in einem Berliner Späti und einer gemeinsamen Zigarette werden so mehrere Seiten und 15 Minuten Lesung. Dann betritt das „Ich“ nach kurzem Zögern die Dunkelheit einer vermutlichen Bar, dem Analytiker folgend. Die Zuhörer*Innen sind eingestimmt auf die Tiefe des Buches, in dem sich Judith Hermann mit einer dunklen Vergangenheit auseinandersetzt und werden doch mit dem abrupten Ende vor einer geschlossenen Tür stehengelassen.

Universale Musik

Wie sie schon zuvor einen Übergang zwischen den verschiedenen Programmpunkten geschaffen hatte, gelang es der Musikerin Elina Duni auch hier, einen angenehmen Abschluss für das Publikum zu gestalten. Sonst meist in verschiedenen Formationen vertreten, war sie an diesem Abend solo auf der Bühne. Dabei überschritt die in die Schweiz geflüchtete gebürtige Albanerin auf mehr als eine Weise „Grenzen“: An Klavier, Gitarre oder einer Handtrommel verdeutlichte sie den „Universalismus“ der Musik, sang Lieder auf Arabisch, Italienisch oder Deutsch, setzte sich mit Liebe, Freiheit und Tod auseinander - ihrer Ansicht nach die "großen Themen" der Musik. Dabei veränderte Elina Duni immer wieder ihren Gesangsstil, wirkte mal sanft und verletzlich, mal energisch, mal hoffnungsvoll, mal bedrohlich. Besonders augenscheinlich wurde ihr „Universalismus“ bei dem letzten Stück des Abends, das so untypisch klang und inszeniert wurde, dass viele im Saal erst spät erkannten, dass der Text „schwyzerdütsch“ war.

Wie gefühlvoll Elina Dunis Musik und Gesang sind, lässt sich auf dem Bild erahnen. | Foto: Philipp Findling
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Noch viel Programm

Mit dem Auftakt im Kammgarn ist die Erzählzeit ohne Grenzen nun offiziell eröffnet und bietet allen Besucher*Innen noch bis zum 2. April eine bunte Palette aus den Farben der Literatur. Egal ob Dorfgeschichten in „Die Dinge beim Namen“ mit Rebekka Salm am heutigen Montagabend in Hilzingen, dem klimadystopischen Hoffnungsroman „Diese ganzen belanglosen Wunder“ von Leonie Stahlmann am Mittwoch in Löhningen oder in Neuhausen am Rheinfall eine Lesung von Sasha Filipenko aus "Kremulator" auf Russisch, mit einem Einblick in das Moskau der Stalin-Zeit und einer deutschen Übersetzung.
Als besonderen Abschluss der Erzählzeit lädt Frank Goosen mit seinem im Februar erschienenen Buch „Spiel ab!“ zum traditionellen Sonntagsfrühstück, der einzigen mit Kosten verbundenen Veranstaltung, in die Singener Stadthalle ein. Zum Zeitpunkt der Nachfrage des WOCHENBLATTs am Montagvormittag bei der Mitorganisatorin der Erzählzeit, Alexandra Lampater, waren noch etwa 20 Eintrittskarten für das Frühstück verfügbar. Die Tickets kosten je nach Platz 20 oder 25 Euro.

Mehr Informationen und Lesungen sind zu finden unter www.erzaehlzeit.com

Autor:

Anja Kurz aus Engen

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