Dr. Thomas Petersen ist Meinungsforscher
Wie ist die Lage, Herr Dr. Thomas Petersen?

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Für das Allensbacher Institut für Demoskopie leitet er seit 1993 Untersuchungen, mit der renommierten und mittlerweile verstorbenen Institutsgründerin, Prof. Dr. Elisabeth Noelle-Neumann, hat er das Buch „Alle, nicht jeder“ geschrieben. Petersen veröffentlicht regelmäßig in Fachmedien, schreibt Bücher und schreibt beispielsweise für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Das Wochenblatt sprach mit ihm wenige Tage vor der Bundestagswahl über die Lage - über die Lage vor der Wahl, aber auch über die Lage des einzelnen in der momentanen Gesellschaft. Heraus kam relativ klar, wo es Gesprächsbedarf gibt und wo – vielleicht für viele wider Erwarten – die demoskopische Diagnose der Gesellschaft im Land richtig gut ausfällt.

Wochenblatt: Herr Dr. Petersen, wie ist die Lage?

Dr. Thomas Petersen: Unübersichtlich, zumindest, was die Umfragen zur Bundestagswahl betrifft - und das beschäftigt uns natürlich in der Hauptsache.

Wochenblatt: Was genau ist unübersichtlich? Oder weiß man das gar nicht so genau?

Petersen: Man weiß schon, was man nicht weiß (lacht), aber das ist eine ganze Menge. Wir haben, was die Bundestagswahl anbelangt, eine Situation, die fast neu ist. Zum ersten Mal seit 1949 stellt sich keine bestehende Regierung und auch kein amtierender Regierungschef zur Wiederwahl. Das führt zu einer Situation, die völlig anders ist, als das, was wir kennen. Ich kann auch jetzt (Montag 20.9.2021, Anm. d. Verfassers) noch nicht absehen, wie die Wahl ausgehen wird, das ist ungewöhnlich. Normalerweise weiß man zum jetzigen Zeitpunkt Bescheid.

Wochenblatt: Gleichwohl liest man und sieht man laut verschiedenen Umfragen, dass Olaf Scholz die meisten Stimmen auf sich vereinigen kann…

Petersen: Na ja, aber die Leute wählen Parteien und erst in zweiter Linie Kandidaten. Unter den drei als Kanzlerkandidaten Gehandelten ist Scholz in der Tat der, der am meisten Zuspruch in der Bevölkerung bekommt. Das aber auf niedrigem Niveau. Wir haben nicht nur keine Regierung, die wiedergewählt werden will, sondern wir haben auch keine Opposition, die jetzt gleichsam den großen Leitstern darstellt, wo die Leute das Gefühl haben: Da geht es hin, das ist die Zukunft. Und das Ergebnis ist eine allgemeine Orientierungslosigkeit, die sich in vielen Daten niederschlägt.

Wochenblatt: Wenn ich jetzt etwas provokativ frage: Liegt es nur daran, dass die Regierung so nur nicht wiedergewählt werden kann, oder liegt es auch daran, dass die Orientierungslosigkeit auch auf der politischen Seite zu sehen ist, weil wir gerade vor Aufgaben stehen, für die es keine für die Bevölkerung sich vernünftig und schlüssig anfühlenden Lösungen gibt?

Petersen: Über das Problem, wie wir unsere Sozialkassen in den nächsten zehn bis 15 Jahren stabil halten können. Oft habe ich das Gefühl, dass der Wahlkampf an den eigentlichen Themen vorbeiredet. Es ist eine ungewöhnliche Situation, die Bevölkerung beobachtet die Ereignisse mit großer Aufmerksamkeit und mit großem Interesse, aber auch mit großer Unsicherheit. Und da seit Jahrzehnten auch die Bindung an die Parteien abnimmt, haben wir jetzt eine Phase, wo sich auch noch in den letzten Tagen vor der Wahl sehr viel tun kann. Nicht muss, aber kann.

Wochenblatt: Mich würde es freuen, wenn wir aus demoskopischer, weniger aus politischer Sicht, über die Probleme, die tatsächlich da sind: Wo drückt für die Menschen der Schuh? Wo drückt der Schuh?

Petersen: Das kann man schwer sagen. Denn wenn man fragt, welche Themen sind wichtig, dann bekommt man eine Mischung aus Themen, die die Leute wirklich stark selbst bewegen und aus offensichtlichem Medienecho. Beispiel: Wir hatten kürzlich die Frage: Bei welchen Themen wünschen Sie sich einen Politikwechsel, wo soll es einen Neuanfang geben? Da haben wir eine Liste mit 20 verschiedenen Punkten vorgelegt. Bei der Mehrzahl der Punkte sagen mehr als die Hälfte, dass sie sich einen Wechsel wünschen. Die Klimapolitik war dabei, die Rentenpolitik, die Einwanderungspolitik, die Digitalisierung war dabei. Man hat also die Schlagworte der öffentlichen Diskussion, aber auch Themen, über die wenig geredet wird in der Öffentlichkeit, und beide gleichauf. Das Thema Einwanderung beschäftigt die Bevölkerung sehr stark, obwohl es in den Medien praktisch keine Rolle spielt. Umgekehrt Klima: Da habe ich manchmal das Gefühl, es wird über nichts anderes mehr berichtet.

Wochenblatt: Verändert die Demoskopie durch das Beobachten und das Berichten darüber die Wahlergebnisse?

Petersen: Soweit wir irgend wissen, nicht oder wenn, dann nur sehr gering und indirekt. Die Vorstellung, die Bürger lesen die Umfrageergebnisse und ändern daraufhin ihre Meinung, die ist falsch. Das ist unendlich oft getestet worden. Aber es gibt Fälle und einen habe ich im Jahr 2002 untersucht, wo man das auch zeigen kann, wo die Umfragen anscheinend Journalisten beeindrucken, und die ändern den Tonfall ihrer Berichterstattung und das wiederum hat einen messbaren Einfluss auf die Meinungsbildung in der Bevölkerung. Die Umfragen sind ein relativ kleiner Teil aus dem Gesamtfeld der Berichterstattung. Die hat natürlich einen Einfluss, wie soll es auch anders sein.

Wochenblatt: Ich würde gerne von der Wahl den Blick einmal auf ihre weitere Arbeit wenden: Sie haben vor kurzem eine Untersuchung geleitet zum Freiheitsgefühl der Deutschen. Was kam dabei heraus?

Petersen: Da haben wir einen geradezu dramatischen Befund. Wir stellten unter anderen die Frage: Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann oder ist es besser vorsichtig zu sein? Diese Frage wird seit den 50er-Jahren gestellt, also ziemlich lange. Lange Zeit sagten rund drei Viertel der Bevölkerung: Ja, man kann seine Meinung frei äußern. Vor zehn Jahren waren es zwei Drittel. Im Juni 2021 ist der Anteil derer, die sagten: „ja man kann seine Meinung frei äußern“ auf 45 Prozent gesunken. Das ist der niedrigste Wert, den wir je gemessen haben. 44 Prozent sagten, man muss vorsichtig sein, der Rest war unentschieden. Und das ist schon ungewöhnlich. Eine Gesellschaft, in der die Hälfte der Bevölkerung sagt, ich kann meine Meinung nicht frei äußern. Und das, zumal sich die Rechtslage nicht geändert hat. Ich bin jetzt oft gefragt worden in den letzten Tagen: ist die Meinungsfreiheit in Gefahr? Ist sie natürlich nicht.

Meinungsfreiheit?

Die Leute spüren einen ungeheuren sozialen Druck und haben das Gefühl, wenn ich nicht ganz vorsichtig bin mit der Art, wie ich rede, dann kommen andere und fallen über mich her. Das ist ein Missstand. Und darüber müssen wir reden. Jetzt muss man sagen, dass Juni 2021 noch mitten in der Coronapandemie ein Sonderfall sein kann. Wenn wir die Fragen in drei Jahren wieder stellen, dann vermute ich, dass der Wert wieder etwas gestiegen sein wird, aber diese sinkende Tendenz haben wir schon länger. Und das ist in einer freien Gesellschaft kein guter Zustand, auch wenn es natürlich ein gewisses Maß an sozialer Kontrolle geben muss. Aber wenn die Hälfte der Bevölkerung sich eingeengt fühlt, dann ist irgendetwas mit dem Klima nicht in Ordnung.

Wochenblatt: Wenn ich es laienhaft ausdrücke: wenn in einer Familie, im Verein, in Unternehmen nicht über das geredet wird, was ist und was wahrgenommen wird, dann gärt es im Hintergrund und dann kommen Dinge an Stellen heraus, an denen man sie gerade überhaupt nicht brauchen kann oder Menschen kündigen innerlich. Sehen Sie ähnliche Effekte für die Gesellschaft?

Petersen: Die sind da, die waren da und die wird es auch immer geben. Überall dort, wo strikte Sprachregelungen in der Gesellschaft getroffen werden oder gar Tabus sind, sind Konfliktfelder der Gesellschaft. Man kann untersuchen, wo die Themen sind, mit denen man sich den Mund verbrennen kann. Das ist zum einen alles, was mit dem dritten Reich zu tun hat und sei es noch so indirekt. Heimatliebe ist so ein Alarmwort. Weitere kritische Themen sind: Einwanderung und vieles, was mit den Geschlechterrollen zu tun hat.

Wochenblatt: Sie haben vorher schon gesagt: Wir müssen miteinander reden. Ist das das Rezept, wo sie aus ihrer persönlichen Sicht sagen würden, das braucht es mehr?

Petersen: Ja, und das tun wir ja in vielen Fällen. Aber wir haben in manchen intellektuellen Kreisen eine seltsame Überzüchtung des Diskurses, die dafür sorgt, dass Teile der intellektuellen Welt, der Medien, der Universitäten wenig Kontakt haben mit dem Rest der Bevölkerung, da haben sich Milieus auseinanderentwickelt. Man versteht sich gegenseitig nicht mehr.

Wochenblatt: Denn weil viele Menschen in ihrem Leben etwas anderes wahrnehmen als das, was diese Kreise auf die Agenda setzen?«

Petersen: …Ein albernes Beispiel: Wir haben gefragt, ob man diese bekannte Süßigkeit noch Negerkuss nennen darf. Und ob man im Gasthaus noch ein Zigeunerschnitzel bestellen darf. Da sagen Riesenmehrheiten der Bevölkerung: Natürlich darf man das. Das habe ich einer Bremer Zeitungsjournalistin erzählt und sie war völlig entgeistert, weil sie glaubte, dass diese Begriffe längst ausgestorben seien. Und ich bin mir sicher, dass in ihren Kreisen allerdings seit 20 Jahren keiner mehr ein Zigeunerschnitzel bestellt hat.

Wochenblatt: Gab es das schon einmal in der jüngeren Geschichte?

Petersen: Die Schärfe ist ungewöhnlich, aber den Mechaismus gibt es immer. Wahrscheinlich je stärker, je länger eine Gesellschaft in Freiheit lebt. In einer Diktatur muss ich keine eigenen Werte oder Normen erlernen, denn da sagt mir der Diktator und seine Schergen, was ich zu tun habe. In einer freien Gesellschaft müssen die Werte und Normen des Zusammenlebens laufend neu ausgehandelt werden.

Wochenblatt: Wie wirkt Social Media da?

Petersen: Das Problem bei neu aufkommenden Massenmedien ist, dass man ihre Wirkung erst eine Generation später versteht. Was ich bisher sehen kann: Social Media spielt vielleicht gar nicht so eine zentral andere Rolle bei der Meinungsbildung als traditionelle Medien. Ich glaube aber, dass Social Media das Potential hat, eine gesellschaftliche Konsensbildung zu durchbrechen, weil Menschen, die eine Minderheitsmeinung haben, leichter Verbündete finden und daraus eine verzerrte Wahrnehmung der Realität entwickeln.

Wochenblatt: Was würden Sie sich für die Gesellschaft in Zusammenhang mit der Politik und den Lücken zwischen einigen Denkern und der Bevölkerungsmehrheit wünschen?

Petersen: Dass Intellektuelle öfter mal mit dem Milchmann reden, nicht nur über Milch, sondern auch über Politik. Das klingt aber jetzt alles so kulturpessimistisch. Ich bin gar nicht pessimistisch, was die Gesellschaft anbelangt: wir haben eine ganze Menge positive Entwicklungen, beispielsweise, was bürgerschaftliches Engagement anbelangt. Der Anteil derer, die sagen, man kann etwas beeinflussen, ist größer geworden.

Wir sind der Staat

Wochenblatt: In welcher Dimension ungefähr?

Petersen: »Der Staat, das sind wir alle, es liegt an uns Bürgern, wie sich Deutschland entwickelt. « Dem stimmten 2012 37 Prozent zu, 2021 47 Prozent. Eine andere Frage: Wie ist ihr Eindruck? Hat man als Bürger Einfluss auf das, was hier am Ort geschieht, oder ist man da machtlos? Man hat Einfluss, sagten 1992 22 Prozent, 2021 47 Prozent.

Wochenblatt: Sind die Möglichkeiten, sich zu engagieren, mehr geworden oder der Wille sich zu engagieren?

Petersen: Ich glaube, dass wir es mit einer ganz langfristigen Entwicklung zu tun. Eine Demokratie ist etwas, an was sich eine Gesellschaft über Generationen hinweg gewöhnen muss. In den 50er-Jahren ergaben amerikanische Untersuchungen in Westdeutschland eine Grundstimmung von wir da unten und die da oben: Der Bürger erwartete vom Staat Befehle oder Dienstleistungen. Dass in einer Demokratie der Bürger der Staat ist, das mussten die Leute über Jahrzehnte hinweg erst lernen. Ich glaube, dass wir hier einen langen Prozess hinter uns haben und dieser Prozess dauert noch an. Und die Westdeutschen hatten mehr Zeit zum Eingewöhnen als die Ostdeutschen.«

Wochenblatt: Das heißt, den Deutschen ist an ihrem Staat gelegen und sie wollen sich durchaus einsetzen…

Petersen: Ja, ich sehe derzeit auch keine wirkliche Gefährdung der Demokratie, auch wenn wir unerfreuliche Phänomene an den politischen Rändern haben. Aber auch das ist nicht wirklich neu. Unterm Strich bin ich gar nicht so pessimistisch.


Wochenblatt
: Dankeschön, auch für diese motivierende Sicht zum Schluss...

Das Interview führte Anatol Hennig

Autor:

Anatol Hennig aus Singen

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