Podiumsgespräch im Radolfzeller Milchwerk
Emotionale Diskussion um die "Festung Europa"

Die RednerInnen der Podiumsdiskussion (von links): Sebastian Röder, Ute Seifried, Ann-Veruschka Jurisch, Lina Seitzl und Andreas Jung.  | Foto: Philipp Findling
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  • Die RednerInnen der Podiumsdiskussion (von links): Sebastian Röder, Ute Seifried, Ann-Veruschka Jurisch, Lina Seitzl und Andreas Jung.
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Radolfzell. Gibt es tatsächlich eine "Festung Europa", wenn es um das weiterhin hochbrisante Thema der Flüchtlingspolitik geht? Über diese und viele weitere Punkte wurde gestern in einer vom Sprecherrat der Ehrenamtlichen Helferkreise und -Vereine im Landkreis Konstanz geleiteten Podiumsdiskussion im Milchwerk Radolfzell gesprochen.

"Alle Menschen haben das Recht auf Schutz - wo auch immer sie herkommen, wo auch immer sie sind und wann immer sie gezwungen sind, zu fliehen." So lautet das diesjährige Motto der UNO zum Weltflüchtlingstag. Hierzu soll nun auch die Abwicklung von Asylverfahren an den EU-Außengrenzen und damit eine erhoffte erleichterte Abschiebung beitragen. "Ich habe den Eindruck, dass Migration aktuell wieder das wichtigste Thema ist", sagt Manfred Hensler, Mitglied des Sprecherrats und Diskussionsleiter des Abends. Man sei ein Stückweit mitschuldig an der Krise, das Verschweigen dessen bezeichnete er als "heuchlerisch". Auch wenn die Geflüchteten die Menschen hier mit ihrem Wissen und deren Kultur bereichern, so sei die Gefahr gegeben, dass die Menschenrechte durch verschärfte Maßnahmen Schaden nehmen könnten: "Die Festung Europa bekommt dann eine wertlose Hülle."

"Respektvolle und humane Debatte"

Der Abend wurde in drei Abschnitte unterteilt und begann zunächst mit den Statements der fünf geladenen Podiumsgäste: den drei Bundestagsabgeordneten des Landkreises, Andreas Jung (CDU), Dr. Ann-Veruschka Jurisch (FDP) und Dr. Lina Seitzl (SPD), Singens Bürgermeisterin Ute Seifried sowie Sebastian Röder, Rechtsanwalt und Mitglied des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg.
"Wir stehen mittlerweile am Punkt der Überforderung und stellen uns die Frage, was in dieser Thematik machbar ist", eröffnete Jurisch. Sie verwies dabei auch auf die Überlastung der Kommunen, sowie die Gefährdung der Integration. Von den Kommunen waren stellvertretend neben Seifried auch weitere Bürgermeister aus den Kommunen anwesend. Für Jurisch sei es wichtig, in dieser Angelegenheit eine "respektvolle und humane Debatte" zu führen. "Wir müssen den Schleusern das Handwerk legen und gute Wege schaffen, um die betroffenen Menschen in unseren Arbeitsmarkt zu integrieren."

"Wir stehen beim Thema Flüchtlinge vor einer großen Herausforderung und der Gefahr, hierdurch einen politischen Rechts- und Linksruck zu erfahren", sagte Seitzl zu Beginn. Hierbei gelte es für sie, das Recht auf Humanität zu bewahren und eine Form von Ordnung zu schaffen, um diese Herausforderung zu meistern. "Wir brauchen Zuwanderung, auch um dem akuten Fachkräftemangel in Deutschland entgegentreten zu können." Die kürzlich in der EU beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, welche jedoch noch unter anderem vom EU-Parlament sowie der EU-Kommission und dem EU-Ministerrat verhandelt werden muss, beschrieb sie als Fortschritt, mit dem das System innereuropäischer Grenzen bestehen bleibt.

"Es benötigt ein hohes Maß an Gemeinsamkeit. Daher ist es von hohem Wert, dass die Parteien diese Thematik gemeinsam hinbekommen", findet Andreas Jung. Für ihn sei es vor allem wichtig auf die Fluchtursachen zu blicken, zu denen er unter anderem auch den Klimawandel zählt. Zudem müsse man ihm zufolge differenzieren, ob es einen Schutzgrund gibt.

Ute Seifried bezeichnete die aktuelle Flüchtlingsproblematik als "Kraftakt, auch für kleinere Kommunen", welche bei dieser Thematik derzeit mit dem Rücken zur Wand stünden und dass unter anderem Neiddebatten zu unguten Diskussionen führen. "Anstatt man versucht, die Geflüchteten zu integrieren, halten sich diese in bestimmten Communities auf." Man fühle sich von Bund und Land, wenn auch erst langsam, endlich gehört. "Wir möchten den Menschen eine Perspektive bei uns bieten und sie dabei gut begleiten um die Möglichkeit zu haben, Migration gut steuern zu können", so die Fachbereichsleiterin für Soziales der Stadt Singen.

"Wir müssen den Fokus auf die Menschen richten, die es tatsächlich betrifft", so Sebastian Röder, der anhand von zwei Geschichten beschrieb, welche harten Umstände Flüchtlinge durchleben müssen. Das Bemerkenswerte hierbei war, dass anwesende Geflüchtete trotz Triggerwarnung im Raum blieben und somit Stärke bewiesen. "Seit 2016 werden die Menschen auf Inseln eingesperrt. Die Reform wird dabei nicht zur Problemlösung, sondern einem Anstieg ähnlicher Szenarien führen", verdeutlichte Röder. Die Geflüchteten würden dazu aufgefordert zu begründen, warum sie nicht in dem Land bleiben wollen, über das sie flüchten möchten. "Mit solchen Beschlüssen würde man sich auch selbst schaden und Dinge über Bord werfen", stellte er klar.

Sicherer Kontakt zu Drittstaaten

Im zweiten Teil des Abends wurden seitens Mitglieder des Sprecherrats Fragen an die Podiumsgäste gestellt, so wollte Elisabeth Burkhart zu Beginn von Ute Seifried wissen, warum sich die Städte und Gemeinden nicht auf das Flüchtlingsproblem vorbereiten konnten. "Das hängt unter anderem damit zusammen, dass wir oft Familien haben, welche eine hohe Anzahl an Kindern haben und man dann Kitas bauen oder erweitern muss." Um Kinder fachgerecht unterbringen zu können, müsse ihrer Ansicht nach die Förderung für Kitas verbessert werden, um den Beruf für junge Leute attraktiv zu machen. "Wir müssen uns viel selbst helfen, damit die vielen Dinge, die wir bewältigen müssen, ineinandergreifen können."
Ein weiteres Mitglied wollte von Sebastian Röder wissen, was die Reform des Asylrechts bewirken solle. "Hierzu fehlt mir jegliche Fantasie", so Röder kurz und knapp. Die Entscheidungen, die hierfür getroffen werden, seien "unterirdisch", was man ihm zufolge sehr gut am Beispiel von Flüchtlingslagern und -kontrollen in Griechenland begründen kann. "Die Menschen dort sind unterversorgt."
Seine Aussage, dass man hier in Deutschland eine Schutzquote (prozentualer Anteil der Aslybewerber, denen Schutz gewährt wird) von 70 bis 80 Prozent habe, widerlegte Ann-Veruschka Jurisch umgehend: "Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge liegt diese Quote aktuell bei 56,2 Prozent." Die Politik müsse grundrechtssichernde Verfahren entwickeln und dafür sorgen, dass ein sicherer, persönlicher Kontakt in und zu Drittstaaten gegeben sei.

Dublin Verordnung als "großes Chaos"

Auch Bernhard Grunewald vom Singener Verein inSi ging bei seiner Frage an die FDP-Abgeordnete darauf ein, ob es sinnvoll sei, Geld gegen Wert einzusetzen. "Wir sorgen mit dem Migrationsabkommen bereits dafür, dass die Menschen einen umfassend guten Weg in den Arbeitsmarkt bekommen. Dabei ist es auch wichtig, mit Regimes wie in Tunesien ins Gespräch zu kommen." Zum Thema der sicheren Drittstaaten (Staaten außerhalb der EU) merkte Jurisch an, dass es bei manchen nicht gerade einfach sei, dort Flüchtlinge unterzubringen, beispielsweise die oft gehandelten Länder Georgien und Moldau.
Grunewald merkte an Lina Seitzl gerichtet an, dass viele Länder beim Abkommen nicht mitmachen würden und diese sich sozusagen durch einen "Ablass" frei kaufen können, was dazu führen könnte, dass die Flüchtlinge wieder zu uns kommen. "Uns war es in der EU und als Regierung zunächst einmal wichtig, jetzt eine Einigung zu erzielen", antwortete Seitzl. Jedoch sei durchaus die Befürchtung da, dass sich die Mehrheiten im Parlament verändern werden. "Wer nicht mitmachen möchte, muss eben bezahlen."
"Wir sind ein starkes Europa und trotzdem ist nichts perfekt", antwortete Andreas Jung auf die Frage von Timm Klotz, erster Vorstand des Freundeskreis Asyl Radolfzell, ob man denn die Obergrenze an Schutzbedürftigen nicht schon längst erreicht habe. Es gelte, Strukturen zu verbessern und Empfehlungen aufrecht zu erhalten. "Eine Festung Europa werden wir nicht haben, da wir vor allem zunächst die Situation in den Herkunftsländern verbessern müssen." Er erlebe diesbezüglich aktuell Rück- statt Fortschritte.
"Wir wissen, dass wir noch viele Hausaufgaben haben", so Jurisch. Dabei sei es wichtig zu wissen, dass die Mittel seit 2016 verdoppelt wurden.
"Es muss eine rechtsstaatliche Klarheit erzielt werden, wofür der europäische Weg notwendig ist", so Jurisch. Es sei wichtig, Entwicklungshilfen für die Herkunfts- und Drittstaaten zu nutzen. Laut Jung sei es von großer Bedeutung, echte Partnerschaften auf Augenhöhe aufzubauen.

Verantwortung für den Schutz der Menschenrechte

Im weiteren Verlauf konnte nun das Publikum Fragen an die RednerInnen stellen. Eine Integrationsarbeiterin wollte zu Beginn wissen, wie man den Geflüchteten Schutz bieten könne und was man mit den Menschen tut, die bereits da seien. Für Lina Seitzl ist es hierbei wichtig, auch den Menschen, die "noch keinen gesicherten Schutzstatus" haben eine Arbeitsmöglichkeit zu geben. "Der Schutz muss auf die Schutzbedürftigen konzentriert werden, um die Zahlen einzugrenzen und Anreize geben, um zu arbeiten", bekräftigte Andreas Jung.
"Wir haben eine große Verantwortung dafür, den Schutz der Menschenrechte in armen Ländern aufrechtzuerhalten und die Gesprächskanäle dahin weiter zu stärken", antwortete Jurisch auf die Frage eines Rechtsanwalts, der die geringen Lebenschancen sowie die Situation in vielen Entwicklungsländern Afrikas wie dem Niger ansprach.
"Es braucht zentrale Bedingungen, sich in Staaten zu engagieren. Dabei ist es wichtig, auch nur den Ländern Förderungen zuzusichern, welche auch dazu bereit sind", erläuterte Seitzl die Nachfrage von Eric Kamguia Mve, unter anderem Mitglied des Internationalen Forums in Konstanz. Kamguia Mve wollte zudem vom CDU-Abgeordneten Jung wissen, wie man denn heute noch über Migration reden soll. "Wir waren schon lange Einwanderungsland und haben zu lange Diskussionen darüber geführt." Nun müsse man viele Anträge abarbeiten und Anworten auf Probleme finden, damit Deutschland auch weiterhin ein attraktives Land bleibe.

"Versuchen das zu machen, was in unserer Macht steht"

Der Engener Bürgermeister Johannes Moser merkte an, dass die Kommunen mittlerweile an der Grenze seien, eine Unterbringung könne man nicht mehr vernünftig regeln. Auf seine Frage, wie man wieder Wohnungen belegen und Kinder in die Kita gehen können, antwortete Sebastian Röder: "Wohnungen kann man bauen, Baurecht kann man schaffen." Zudem könne der Rahmen der Möglichkeiten dahingehend geändert werden, indem das Geld anders verteilt werde.
"Wir haben allein im letzten Jahr 15,6 Millarden Euro an Geldern für die Kommunen zur Bekämpfung des Flüchtlingsproblems bereitgestellt. Es fehlt an Personal und Infrastruktur", entgegnete Seitzl. Es gelte ihrer Ansicht nach, Berufsabschlüsse anzuerkennen sowie die Bauanträge zu bewilligen. "Eine Diskussion an der Realität entlang sowie mehr Pragmatismus halte ich hierbei für sehr wichtig", so die SPD-Abgeordnete.
"Wir haben gerade aufgrund der Überforderung derzeit eine gespaltene Gesellschaft. Hierbei versuchen wir das zu machen, was in unserer Macht steht", entgegnete Jurisch auf die Schlussfrage eines Gastes, der sie nach der Befürchtung, dass die vielen Maßnahmen und Verschärfungen der Willkommenskultur schaden könnten, fragte. "Das Schlimmste ist, wenn die gesellschaftliche Akzeptanz bröckelt. Dabei ist es unser aller Verantwortung, das Asylrecht zu erhalten und Schutz zu gewähren", fügte Andreas Jung hinzu. Zudem haben für ihn die demokratischen Parteien der Mitte die Verantwortung, einen Rechts- oder Linksruck in Deutschland zu verhindern.

Ein Kontinent voller Frieden

Das endgültige Schlusswort eines am Ende doch sehr emotionalen und munteren Diskussionsabends hatte Ajmal Farman, Vorsitzender von "Unser Buntes Engen". So könne ihm zufolge die aktuelle Thematik nicht als Schwarz oder Weiß betrachtet werden. "Dennoch hat sich Europa von einem Kontinent voller Kriege zu einem voller Frieden gewandelt." Es habe Vorrang, die Demokratie und jene Grenzen zu schützen, die überschritten werden, um Menschen in die Entmenschlichung zu schicken. "Es sind nicht wir, die die Krise haben, sondern die Menschen, die fliehen, weil diese keine Demokratie erleben und keine menschliche Situation vorfinden", so Farman. Es müsse für ihn überall eine humanitäre Situation gegeben sein und alle Energie dafür eingesetzt werden, Geflüchtete als Teil unserer Gesellschaft zu sehen. "Ich träume von einer Welt, in der niemand gegen seinen Willen seine Heimat verlassen muss."

Die RednerInnen der Podiumsdiskussion (von links): Sebastian Röder, Ute Seifried, Ann-Veruschka Jurisch, Lina Seitzl und Andreas Jung.  | Foto: Philipp Findling
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Autor:

Philipp Findling aus Singen

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