Narrengericht Stockach setzt sich mit Rolle im Nationalsozialismus auseinander
»Es gab keine Stunde Null«

Thomas Warndorf Jürgen Koterzyna  | Foto: Eine intensive Aufarbeitung der Rolle des Narrengerichts während der NS-Zeit ist geplant: Thomas Warndorf, Archivar des Narrengerichts und Historiker, und Narrenrichter Jürgen Koterzyna.swb-Bild: sw
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Stockach. Das Stockacher Narrengericht möchte eine Lücke in der Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte schließen. Die Rolle des närrischen Brauchtums während der NS-Diktatur von 1933 bis 1945 und der Umgang mit diesem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte in der Nachkriegszeit sollen recherchiert, dargestellt, dokumentiert und festgehalten werden. »Während andere Epochen in der Entwicklungsgeschichte des Stockacher Narrengerichts über die Jahre ausführlich beleuchtet wurden, existiert für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Stockacher Narrengericht bisher keine zusammenfassende Darstellung. Dieses Versäumnis gilt es nachzuholen«, erklärt Narrenrichter Jürgen Koterzyna im Pressetext. Am Montagabend, 17. Dezember, wurden zudem in einem Mediengespräch erste Erkenntnisse der Forschungsarbeit von Archivar Thomas Warndorf vorgestellt. Angestoßen wurde die Diskussion um die NS-Vergangenheit durch die Debatte um den ehemaligen Gerichtsnarren und Liedtexter Willi Hermann. Er war während der NS-Zeit als Parteiredner der NSDAP aufgetreten und soll an Verbrechen wie Erschießungen in Griechenland beteiligt gewesen sein.

Seinen Aufarbeitungsauftrag nimmt das Narrengericht nach eigenen Angaben sehr ernst. Über sechs Monate lang hat sich Archivar Thomas Warndorf in Akten, historische Quellen, Entnazifizierungsberichte, Protokolle und bereits vorhandene Darstellungen in Geschichtsbüchern vertieft. Eine erste Analyse seiner Recherchen wird der Historiker in der Hans-Kuony-Post, der Zeitung des Narrengerichts, veröffentlichen, die im Rahmen der Dreikönigssitzung am Sonntag, 6. Januar, im Bürgerhaus »Adler Post« verteilt wird. Dabei, so betont Thomas Warndorf, handelt es sich um einen ersten Eindruck unter dem Titel »Es ist immer alles komplizierter, das ist ja das Problem«. Dieser Aufsatz wird allerdings noch keine Literaturhinweise oder Anmerkungen enthalten. Eine detailliertere Version seiner Forschungen wird Thomas Warndorf im einem Vortrag am Montag, 11. März 2019, im Kulturzentrum »Altes Forstamt« in der Salmannsweilerstraße 1 präsentieren. Das Referat ist Teil der Vortragsreihe der Stadt und wird gemeinsam mit der Volkshochschule und dem Hegaugeschichtsverein organisiert. Die Erkenntnisse aus dem Beitrag in der Hans-Kuony-Post und dem Vortrag im Kulturzentrum sind dann Teil einer Buchveröffentlichung, die 2019 oder Anfang 2020 geplant ist. Der Band aus der Reihe »Stockach entdecken« soll »erstmals ein umfassendes Bild der nationalsozialistischen Vergangenheit des Stockacher Narrengerichts und ihrer Folgen« bieten, so der Presstext des Narrengerichts.

Während des Pressegesprächs legte Thomas Warndorf ausführlich seine ersten Erkenntnisse dar. Den untersuchten Zeitraum grenzte er auf die Jahre von 1930 bis 1977 ein. 1930 hat der Historiker gewählt, da es zu diesem Zeitpunkt, drei Jahre vor der eigentlichen Machtergreifung Hitlers, bereits erste Spuren einer Einflussnahme auf das Stockacher Brauchtum gab, und 1977 als Ende des Rechercheblocks ist das Todesjahr von Willi Hermann. Nach Darstellung von Thomas Warndorf gab es vor seinen Untersuchung durchaus Ansätze einer Auseinandersetzung der Interaktion von Narrengericht und Nationalsozialismus - so wurde in Büchern zur Stockacher Geschichte das Thema gestreift. Alfred Eble etwa ging in seinem Werk vor allem auf die Rolle der Vereinigung Schwäbisch Alemannischer Narrenzünfte (VSAN) in den Jahren von 1933 bis 1945 ein. Eine ausführliche Dokumentation zu dem Thema aus Stockacher Sicht fehlte bisher allerdings.

Die ersten Erkenntnisse von Thomas Warndorf lassen sich in drei Thesen zusammen fassen. Zum einen hat der Historiker festgestellt, dass Willi Hermann nie eine herausragende Rolle innerhalb des Narrengerichts gespielt habe. Er habe Beiträge für »Bunte Abende« verfasst, habe fastnächtliche Lieder geschrieben und war Gerichtsnarr gewesen - doch eine zentrale Figur innerhalb des örtlichen närrischen Brauchtums war er Thomas Warndorf zu Folge nie gewesen. Zudem war Willi Hermann in den Jahren 1933 bis 1945 nicht Mitglied im Narrengericht gewesen. Dennoch so Jürgen Koterzyna: »Das Narrengericht wird keines der Willi Hermann Lieder in sein offizielles Programm aufnehmen.«

Die weiteren Untersuchungsergebnisse von Thomas Warndorf befassen sich über die Person Hermanns hinaus mit der Rolle des Narrengerichts in der NS-Zeit. Danach waren die Narren zwar ein durchaus willfähriger, doch keineswegs übereifriger Unterstützer der Hitler-Ideologie: »Die Gleichschaltung erfolgte in Stockach im Großen und Ganzen ohne Widerstand, teilweise durchaus mit Begeisterung und Engagement. Allerdings bewegte sich die Anbiederung ganz im Rahmen der sogenannten Gleichschaltung, die ab 1933 vom Spitzenverband der schwäbisch-alemannischen Fasnacht, der VSAN, gezielt vorangetrieben wurde. Als Mitglied der VSAN hatte man auf diese Einflussnahme der Partei in Stockach keinerlei Einfluss.«

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fehlte den Stockacher Narren nach Erkenntnissen von Thomas Warndorf allerdings jegliche Distanz zur jüngsten Vergangenheit, eine kritische Auseinandersetzung oder eine Aufarbeitung fanden nicht statt: »Eine Stunde Null, einen Neubeginn, hat es nie gegeben«, fasst er seine dritte These zusammen So wurde nie nach dem Verbleib von jüdischen Mitgliedern des Kollegiums gefragt. Und nach der Wiederzulassung durch die französischen Militärbehörden am 11. Februar 1948 wurde Hermann Muffler Narrenrichter. Laut Thomas Warndorf ein politisch unbelasteter Mann, der als ehemaliger KZ-Insasse selbst Opfer des NS-Terrors geworden war. Nach internen Querelen und unter wegen der unsicheren Quellenlage schwer zu beleuchtenden Umständen wurde Hermann Muffler in den Hintergrund gedrängt, Friedrich Dandler wurde sein Nachfolger im Amt des Narrenrichters.

Offizielle Begründung des Ämterwechsels war, so Thomas Warndorf, dass Hermann Muffler nicht in der Lage sei, das anstehende Narrentreffen zu organisieren. Unter Friedrich Dandler als Narrenrichter sei dann eine Vielzahl von Männern in das Narrengericht aufgenommen worden, die unter der NS-Diktatur Karriere gemacht hatten und Mitglied der Partei gewesen waren. Unter ihnen auch ein ehemaliger SS-Mann. Auch sei in Stockach und im Kollegium genau bekannt gewesen, dass Willi Hermann eine große Rolle im Nationalsozialismus gespielt habe. Seine Aufnahme in das Narrengericht erfolgte aber einstimmig. »Ob allerdings seine Zugehörigkeit während des Zweiten Weltkriegs zu einem Strafbataillon und seine mögliche Teilnahme an Ermordungen in Griechenland bekannt waren, ist mangels Zeitzeugen nicht zu beantworten«, so der Pressetext des Narrengerichts.

- Simone Weiß

Autor:

Redaktion aus Singen

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