Gefeiertes "My Heart Is Full of Na-Na-Na"
Jeder holt sich seinen Stolz zurück

Tearjerker (Jonas Pätzold) und Florin (Leonard Meschter) beim Blick in den ESC-Himmel vor dem geknoteten Gefühlshaufen ihrer Leben. | Foto: Ilja Mess/ Theater Konstanz
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  • Tearjerker (Jonas Pätzold) und Florin (Leonard Meschter) beim Blick in den ESC-Himmel vor dem geknoteten Gefühlshaufen ihrer Leben.
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Konstanz. Florin (Leonard Meschter) ist 13 Jahre alt und schrubbt an seiner Gitarre herum. Ein Hit von Tearjerker (Jonas Pätzold) hat es dem Jugendlichen angetan in seinem sonst finsteren Leben. Denn seine Mutter war vor elf Monaten, 17 Tagen und 13 Stunden bei einem Unfall zu Tode gekommen, bei dem die Schuldfrage noch im Raum steht.
Und sein Vater Alain (Ingo Biermann) hat sich scheinbar aufgegeben. So wie er vergisst, wegen eines Jobs zum Arbeitsamt zu gehen, will er auch seine Rechnungen nicht zahlen, vergisst natürlich auch den Geburtstag seines Sohns und will bockig schlafen, wann er will - sprich den ganzen Tag.
Sein Bruder Alexandru (Ioachim Willhelm Zarcuela) hat sich längst aus dem Staub gemacht, im Zorn über das Versagen des Vaters. Denn man hat nie geredet, über Trauer, oder über das, was zu dieser zerbrochenen Situation führte. Bahnt sich da ein Männerdrama an, eines über das nicht austauschen können von Gefühlen?

Genre-Wendung

In diese Szenen platzt ein gefallener Engel: richtig Tearjerker, ganz in Schwarz, mit gebrochenen Flügeln. Wie aus dem Himmel gefallen, aber eigentlich ein Kandidat, um in einen Abgrund zu stürzen. Denn der Engel war einst mal beim European Song Contest (ESC) dabei, bekam nicht mal einen Punkt von den Deutschen und das ist schon viele Jahre her.
Doch plötzlich dreht sich diese Hoffnungslosigkeit. Aus dem Drama kann eine, wenn auch skurrile, aber genau deshalb so sehenswert schräge Komödie werden. Richtig: Tearjerker fängt da tatsächlich an, eine Ebene zu eröffnen, um Gefühle zu übermitteln in großen Szenen, wird Teil dieser "Männer WG", kann aus einem "Mir kann niemand helfen" des Vaters plötzlich wieder eine Rolle machen. Immer mehr wird auch klar, dass sie schon lange vor dem Tod der Frau und Mutter da war, diese Katastrophe der Familie, die sich nun auflösen wird.

Denn Alain will zwar nicht zum Seelenklempner, aber wie er dann gesteht, hat er mit seinen Krisen schon lange Erfahrungen, das wurde in der Familie immer nur als geschäftlicher Aufenthalt im Ausland getarnt. Und er kann sich wieder an das seltsame Kennenlernen mit seiner Frau erinnern, wo man sich eigentlich so oft aus den Augen verloren hat. Der Geburtstag wird nachgeholt, der rüde ausgetragene Konflikt mit Alexandru geht in den Dialog über und nachdem er in einer fantastischen Szene in Zeitlupe doch noch von der Kante des Hochhauses gerettet werden kann, wird es Tearjerker doch nochmal probieren beim ESC. Vorher begannen die Akteure in einem faszinierenden Bild mit einem zunächst als Grenze dienenden Band auf der so nüchternen Bühne mit ihren Händen zu stricken - aufeinander zu. Das schaffen sie.
Getragen von Céline Dion, die ja mal für die Schweiz 1988 als Kanadierin den ESC gewonnen hatte, und mit neuem Glauben aus dem berühmten "Titanic"-Bild geht es auf die große Bühne. Vorbei das "Wir sind alle immer nicht neben ihr" (der Mutter), die Familie findet wieder zusammen und der Auftritt seines Songs hoch droben in der Luft ist ein geniales Finale, das das Publikum mit einem gigantischen Applaus honoriert, der zur Premiere schier nicht enden will.

Grotesk und sympathisch

Lucien Haug, der Autor des Stücks aus der Schweiz, der zur Premiere dabei war, und Regisseur Kristo Šagor sind natürlich ESC-Fans. Das macht dieses Stück aus, was es in seiner zuweilen grotesken Struktur besonders sympathisch macht, sogar für die Feinde dieses Contests. Schon durch die enorm individuelle Präsenz der Schauspieler in ihrer unbeholfenen Suche nach der Beziehung zueinander ist das ein richtig einzigartiges Meisterwerk geworden. Denn jeder holte sich hier seinen Stolz zurück.
Ja, ja, diese Männer, hieß es dann an der Bar aus dem Publikum. Aber das Stück hätte man sicher auch mit Frauen besetzen können.

Was das Stricken auf der Bühne anbetrifft, so kann das Entknoten von Gefühlen hier im Theater mit einer speziellen Aktion trainiert werden: Bei "Gemeinsam gestrickt hält besser" gibt es am 6. April um 15 Uhr für alle die Möglichkeit für einen Austausch über gewagte Strickmuster und einfache Häkelanleitungen oder das erste Erlernen dieser Fähigkeiten im Foyer des Theaters - für Männer wie Frauen übrigens. Mit dabei: Strick- und Häkelexpertinnen und -experten sowie die "Rabatzzbande" mit musikalischen Auftritten. Der Eintritt ist frei.

"My Heart Is Full of Na-Na-Na" hat das Zeug zum Kult übers Knoten lösen und dabei lachen können. Es ist im Programm des Theaters Konstanz bis zum 18. April. Solle man unbedingt gesehen haben. Mehr und Karten unter theaterkonstanz.de

Autor:

Oliver Fiedler aus Gottmadingen

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