Interview zu den aktuellen Entwicklungen
Nachgehakt bei Andreas Jung

Andreas Jung | Foto: Der Bundestagsabgeordnete Andreas Jung stand dem Wochenblatt Rede und Antwort. swb-Bild: pr
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Landkreis Konstanz/ Berlin. Kurz bevor zumindest für ein paar Wochen bis Monate so etwas wie ein bisschen Normalität einkehrt und wir uns auf Straßencafés, Biergärten und Freibadsaison und vielleicht auch so etwas wie Urlaub freuen, wollten wir noch einmal innehalten und haben vor der heißen Wahlkampfphase unserem Bundestagsabgeordneten Andreas Jung ein paar Fragen gestellt, auch im Abgleich zu dem Interview, das wir im Herbst letzten Jahres mit ihm geführt haben.

Wochenblatt: Herr Jung, es ist jetzt fast ein halbes Jahr her, dass wir das letzte Gespräch über Corona, die Region, Gesellschaft und Wirtschaft und über Zukunftsperspektiven geführt haben. Bevor das Land und die Region aufatmen, wollen wir die Lage noch nutzen zur Reflektion mit Ihnen. In welchen Punkten haben Sie sich zurückblickend geirrt?
Andreas Jung: »Ich hatte gehofft, dass Kitas, Kindergärten, Schulen und auch Betriebe nach dem ersten Lockdown im letzten Frühjahr nicht noch einmal geschlossen werden müssen.«

Wochenblatt: Wo lagen Sie richtig?
Andreas Jung: »Es wird nicht auf einen Schlag alles wieder so sein wie vor Corona, aber Impfungen und Schnelltests zusammen werden zu einem Stück Normalisierung führen. Das war meine Erwartung. Wir alle hätten uns das noch schneller gewünscht. Aber wir sind jetzt ein gutes Stück vorangekommen auf dem Weg und nun geht es weiter Schritt für Schritt vorwärts.«

Wochenblatt: Unter anderem haben Sie im Oktober 2020 gesagt, es dürfe keine Grenzschließungen zwischen Deutschland und der Schweiz mehr geben. Jetzt war die Grenze für ganz viele Menschen wieder zu und ist immer noch zu. Die Schweizer, die hier in der Region einkaufen, sind Monate weg gewesen, in diesem Fall litt sogar der Lebensmittelhandel darunter. Waren die Maßnahmen richtig? Warum hat sich Ihre Sicht von Oktober nicht durchgesetzt? Was ist passiert?
Andreas Jung: »Im letzten Frühjahr war das Bild an unserer Grenze zur Schweiz geprägt von Schlagbäumen und Zäunen, Familien waren getrennt, Pendler mussten Umwege fahren, Zugverbindungen wurden unterbrochen. Solch eine harte Grenzschließung gab es nicht mehr und insoweit wurden schon Konsequenzen gezogen. Die >24-Stunden-Regel< war die Antwort auf das gemeinsame Leben in einer Grenzregion. Mich haben die neuerlichen Beschränkungen vor Weihnachten dann geschmerzt: Man durfte die Grenze zwar noch überqueren, aber nicht mehr für >Tourismus< und nicht zum Einkaufen. Der Grund allerdings waren unterschiedliche Regeln auf beiden Seiten der Grenze. Das ist das eigentliche Problem: Auch nach über einem Jahr ist es nicht gelungen, vergleichbare Konzepte auf beiden Seiten der Grenze abzustimmen, das ist ein Dilemma! Jetzt sind diese Beschränkungen wieder gefallen, die Schweizer Nachbarn sind wieder da. Zum Glück, Schwyzerdütsch in unseren Städten ist eine Bereicherung und nur zusammen sind wir stark. Ich hoffe, diese Erkenntnis bleibt uns. Und für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bleibt auch nach Corona viel zu tun: Die Grenze muss raus aus unseren Köpfen!«

Wochenblatt: Bleiben wir noch ein bisschen beim Einzelhandel: Der Handel musste schließen, die Industrie lief weiter. Die Hilfen helfen nach allem, was wir wissen, vielen mittelständischen Betrieben nicht wirklich, Kunden sind zu den großen Onlinegiganten abgewandert. Wie kann die Politik, wie will die Politik dem Mittelstand vor Ort wieder auf die Füße helfen oder gibt man die lokalen Welten verloren zugunsten der Onlineriesen aus Übersee, die erstens so gut wie keinen Beitrag zum Gemeinwohl leisten und zweitens mit unseren Daten ein Machtungleichgewicht geschaffen haben, das in der Menschheitsgeschichte wahrscheinlich einmalig ist?
Andreas Jung: »Wir dürfen das nicht verloren geben! Ohne den Einzelhandel verlieren unsere Stadtzentren ihr Gesicht. Diese Betriebe bilden aus, sie schaffen Arbeit und Wertschöpfung in der Region. Die Hilfen hätten schneller ausgezahlt werden müssen – und besser werden kann und muss es immer. Das haben wir als Abgeordnete immer wieder sehr deutlich gemacht. Und klar ist: Solange die Krise geht, gibt es Unterstützung! Deshalb wird die Unterstützung bis Ende des Jahres verlängert. Und danach kommt es auf gute Wettbewerbsbedingungen an. Eine Zusatzbelastung unserer Familienbetriebe nach dem Motto »Erst stützen, dann stutzen«, das lehne ich klar ab. Im Gegenteil: Nach der Krise müssen wir die strukturellen Fragen angehen. Lebendige Innenstädte machen unser Land liebenswert und deshalb ist das eine Gemeinschaftsaufgabe für Kommunen, Länder und Bund. Ich bin für einen stärkeren gemeinsam getragenen >Innenstadtfonds<, mit dem Ortskerne nachhaltig zu Erlebnisräumen entwickelt werden: Geschäfte und Gastronomie, Spielplätze und Kultur, Austausch und Begegnung. Der Einkauf in der Stadt muss einen echten Mehrwert haben: Mehr soziale Kontakte als die Unterschrift beim Paketboten! Denn eines hat die Krise doch deutlich gezeigt: Wir sind soziale Wesen und brauchen Gesellschaft, sonst verarmen wir seelisch.«

Wochenblatt: Ihr Vorstoß einer Paketsteuer zugunsten des stationären Einzelhandels ist zerpflückt worden. Wie geht es weiter?
Andreas Jung: »Für den Vorschlag gab es Kritik – zum Beispiel von Konzernen wie Amazon. Es gab aber auch viel Zuspruch, vor allem von Händlern aus der Region. So war das auch ausgelegt: Wer vor Ort verwurzelt ist, Steuern bezahlt und zum Gemeinwesen beiträgt, der soll auch dann freigestellt werden, wenn er Online-Handel betreibt – über Steuer-anrechnung oder über Freigrenzen etwa. Bezahlen sollte dagegen, wer lediglich unsere Infrastruktur nutzt, ohne zur Wertschöpfung beizutragen. Es geht also um Wettbewerb auf Augenhöhe, um gleich lange Spieße! Der beste Weg dafür ist eine angemessene Besteuerung global tätiger Konzerne. Dafür verhandelt die Bundesregierung international und wir unterstützen das mit Nachdruck.
Der Bundesfinanzminister erwartet jetzt bis Sommer einen Durchbruch. Sollte das nicht gelingen, ist eine europäische Lösung der zweitbeste Weg. Das Problem bei diesen internationalen Prozessen: es dauert – aber die Zeit läuft. Deshalb habe ich diesen Vorschlag gemacht und darum bleibe ich an dem Thema dran: Politik ist das Bohren dicker Bretter!«

Wochenblatt: Wie verlieren wir unseren Platz ganz oben in der Welt als Hochsteuerland?
Andreas Jung: »Für generelle Steuersenkungen haben wir nach der Krise wenig Spielraum. Wir müssen erst den Bundeshaushalt in Ordnung bringen und wir brauchen auch starke Investitionen. Aber trotzdem müssen wir die Mitte stärken, wir brauchen wettbewerbsfähige Steuersätze und eine gezielte Entlastung für Familienbetriebe. Noch vor der Wahl führen wir ein Steuer-Wahlrecht für sie ein: Eine Personengesellschaft kann sich dann wie eine Kapitalgesellschaft besteuern lassen – die Kleinen sollen nicht mehr zahlen als die Großen! Und dann muss steuerlich belohnt werden, wer Mittel nicht privat entnimmt, sondern gleich wieder in den Betrieb investiert. Zudem plädiere ich für eine Klimaabgabenreform: Wir bezahlen sicher nicht zu wenig Steuern, Umlagen und Entgelte für Energie und Verkehr, das sind Milliarden jedes Jahr. Aber wir brauchen eine konsequente Ausrichtung auf Klimaschutz: Nicht mehr Staatseinnahmen, aber ein stärkeres Innovationssignal! Darum geht es und so erreichen wir mit demselben Geld viel mehr für Klimaschutz.«

Wochenblatt: Mal ganz frei von der Leber weg: Wenn wir unsere Kinder anschauen, was müssen wir jetzt auf die Bahn bringen? Wo sind wir zu langsam?
Andreas Jung: »Bei Infrastruktur und Innovationen. Ob beim schnellen Internet im Klassenzimmer oder bei der Zugverbindung nach Stuttgart, bei Digitalisierung und Klimaschutz. Wir müssen Tempo machen bei Zukunftstechnologien. Forschung und Entwicklung, Genehmigung und Umsetzung. Da brauchen wir einen Turbo. Und als Startvoraussetzung für unsere Kinder müssen wir Familien, Betreuung und Schulen so stärken, dass alle dieselbe Chance auf gesellschaftliche Teilhabe bekommen. Auch das hat die Krise gezeigt: Familien und Kinder brauchen besondere Priorität. Da geht es um Zuwendung – aber auch um Investitionen. Da muss der Scheinwerfer unserer Gesellschaft hin.«

Wochenblatt: Noch eine ganz persönliche Seite würde uns interessieren: Was war in den letzten 60 Wochen Ihre durchschnittliche Wochenarbeitszeit? Und wie erschöpft sind Sie selbst nach über einem Jahr Krise? Was motiviert Sie derzeit?
Andreas Jung: »Unseren Wahlkreis im Bundestag zu vertreten empfinde ich als eine sehr besondere Aufgabe – und es ist auch eine Verpflichtung. Deshalb mache ich das auch mit Haut und Haaren, ohne Stunden zu zählen. Das ist immer zeitlich anspruchsvoll, in der Krise jetzt besonders. Aber das geht doch jetzt ganz vielen Menschen so. Viele arbeiten dabei auch noch hart körperlich, kämpfen mit schwierigen Bedingungen oder wachsen über sich hinaus für ihre Mitmenschen. Ihnen gilt mein besonderer Respekt. Ich denke, die Krise zehrt an uns allen und wir alle wünschen uns, dass wir jetzt sehr bald mit ihr durch sind. Mich motiviert, für die Menschen hier etwas zu bewegen, dass wir bei Corona jetzt Licht am Ende des Tunnels sehen und dass beim Klimaschutz jetzt richtig Musik drin ist. Nur mit Engagement kann man etwas erreichen – und dafür mache ich Politik.«
Wochenblatt: Danke für dieses Interview und auch für den Werbeblock in eigener Sache ;-). Nächste Woche geht es zum einen oder anderen Thema noch etwas mehr in die Tiefe, wir freuen uns darauf.

- Dominique Hahn

Autor:

Anatol Hennig aus Singen

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