Liebe Leserinnen und Leser,

nun sind wir im zweiten Lockdown, light trägt er als Beinamen, haben wir vielfach gelesen und finden ihn eher schwer, er scheint uns gewissermaßen niederzudrücken, vermischt sich irgendwie mit dem Herbstnebel und den kurzen Tagen und langen Nächten und wird viel von uns verlangen.

Und genau deshalb lohnt es sich genauer hinzuschauen, bevor wir glauben, dass unsere Wut uns befreien könnte davon. Nein: Das Virus ist da, und es wird sich unserer Wut nicht beugen, unserer Vernunft und unserer Intelligenz vielleicht schon eher …

Angela Merkel hatte bis Weihnachten über 19.000 neu an Covid-19 Infizierte pro Tag prognostiziert, glauben wollten das viele nicht und jetzt haben wir diese Zahl bereits erreicht. Damit ist klar, dass wir etwas ändern müssen an unserem Verhalten.

Und was wir verändern müssen, darüber gab es in den letzten Monaten große Uneinigkeit, keinen gesellschaftlichen Konsens, wir (nicht alle, aber viele) haben so weitergemacht, als ob es Covid-19 nicht gäbe und wir haben die Leichtigkeit des Sommers genossen, irgendwie fühlte es sich ja auch an, als ob wir uns das verdient gehabt hätten.

Um was geht es und warum jetzt wieder solche Maßnahmen? Unserer Meinung nach geht es immer noch um das gleiche Grundproblem wie im Frühjahr: Wenn wir zu wenig Intensivbetten haben, um die Kranken zu versorgen, dann erleben wir etwas, was es seit dem Zweiten Weltkrieg in diesem Land nicht mehr gab: Wir müssen entscheiden, wen wir einfach sterben lassen.

Allerdings: Mehr und mehr wird uns klar, dass die Nebenwirkungen der Coronapolitik in Deutschland wie in vielen anderen Ländern der Welt ebenfalls beträchtlich sind, nicht nur die Nebenwirkungen für das schnöde Geld, sondern auch für unsere Gesundheit: Bestatter berichten bereits jetzt von erheblich mehr Selbstmorden, die Zahl der Depressionen in Deutschland ist dreimal so hoch wie vor der Krise, ganze Branchen stehen vor dem Aus, das hat mehr Folgen als nur ein paar leere Bankkonten.

In unserem Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andreas Jung (CDU, 45) letzte Woche gab es eine klare Aussage: Die hieß sinngemäß, dass Regeln dann akzeptiert werden können, wenn sie begründet sind und befristet. Befristet sind sie einigermaßen, die neuen Regeln, aber begründet? Nein, zumindest nicht so, dass wir uns abgeholt fühlen. Und so geht es nahezu allen, mit denen wir in den letzten Tagen geredet haben. Auch deshalb haben wir Andreas Jung, der aus unserer Region am nächsten an der Macht der Berliner Politik sitzt derzeit, ein paar Fragen nachgereicht (Seite 24). Und deshalb hätten wir folgende Wünsche an die Politik:

1. Kann sich die Politik intensiver mit dem Infektionsgeschehen beschäftigen und mehr Quellen dazu berücksichtigen? Wenn für 75 Prozent der Infektionen nicht klar ist, wie sie passieren, und es ansonsten vor allem die privaten Haushalte sein sollen, die Infektionstreiber sind, dann ist es zwangsläufig schwierig, sinnvolle Corona-Regeln zu entwickeln, die begründbar sind, und es gibt sicherlich mehr Experten als die Experten des RKI. Es kann nicht sein, dass scheinbar willkürlich einfach die Gastronomie geschlossen wird, die jetzt monatelang mit hohen Investitionen die Politik mitgetragen hat, oder die Fitnessstudios, die sich zu recht selbst als Gesundheitsbringer und -erhalter sehen, oder die Kulturwelt, die eine Gesellschaft genauso wie die klassischen Medien braucht, um sich selbst zu reflektieren.

2. Es wäre aus unserer Sicht wichtig, sich intensiver mit den weiteren Folgen der Krise zu beschäftigen, gerade für die Gesundheit der Menschen und für unser Zusammen­leben. Wo sind beispielsweise die Aussagen zu den psychischen Folgen und vor allem die Abwägungen daraus?

3. Wir würden uns wünschen, dass die Politik zusammen mit den Branchenverbänden und mit den Regionen, in denen derzeit über 600 Bundestagsabgeordnete und noch viel mehr Landtagsabgeordnete vermeintlich das Ohr ganz nah bei den Menschen haben, sinnvolle, weil funktionierende Ausgleichsmaßnahmen schaffen. Die Sachlage: Die Kulturwelt vor Ort kurz vor dem Aus, zahllose Künstlerinnen und Künstler leben von Hartz IV, viele Betriebe wissen nicht, ob sie weiter existieren können, die meisten Coronahilfen wurden nie abgerufen, weil sie wirklichkeitsfremd waren. Und jetzt sollten Unternehmen 75 Prozent der Vorjahresumsätze November ersetzt bekommen. Das wäre gerade für die Soloselbstständigen eine Lotterie gewesen. Die Regelung: wirklichkeitsfremd. Update: Diese Regelung ist bereits aufgrund mehrerer Einsprüche und auch unserer Eingabe korrigiert. Wir werden das Ohr weiterhin ganz nah bei Ihnen haben, schreiben Sie uns gerne auch: seitedrei@wochenblatt.net. Das kann mehr Sinn machen als das herumnölen auf Facebook ...

4. Die Politik wäre gut beraten, über ihre Vertreter in den Regionen eine Wertediskussion anzuschubsen und mit den Regionen die Zukunft zu erarbeiten, die es nach Corona geben soll. Da ist die Strategie, Politik nach Meinungsforschung auszurichten, zu wenig. Warum? Weil das zu kurzsichtig ist und so kein starkes Europa, kein starkes Land, keine starken Regionen entstehen können, das ist Politik, die reagiert. Wir brauchen: Politik, die gestaltet und die Europa wirklich stark macht gegenüber den neuen großen Machtpolen Amerika und China. Ein Europa, das europäisch ist, vielleicht weil es das bein­haltet und fördert, was Europa stark gemacht hat, anstatt sich wechselweise nur bei den amerikanischen Internetgiganten und bei den chinesischen Machthabern anzu­biedern.

Und Sie liebe Leserinnen und Leser? Wir glauben, dass wir als Bürgerinnen und Bürger, zu denen wir ja auch gehören, etwas verstehen sollten, was wir dieses Wochenende auf unserer Facebookseite lesen durften, wo es manchmal auch fundierte Kommentare gibt: Daniela Rentel, deren Kommentar jetzt hier viel mehr Reichweite hat, wie er je auf Facebook bekommen könnte in dieser Region, hat geschrieben, wir können nicht gleichzeitig »Kuchen essen und Kuchen behalten«. Das heißt, wenn wir es frei auslegen dürfen, wir können nicht gleichzeitig unsere Daten schützen wollen und sichere Corona-Entscheidungen von der Politik erwarten, wir können nicht gleichzeitig bei Amazon bestellen und dann erwarten, dass der lokale Einzelhändler künftig noch für uns da ist, wenn wir Klamotten anprobieren wollen oder Fragen haben. Wir können nicht mehr Sicherheit vom Staat erwarten und gleichzeitig mehr Freiheit, letzteres war eines der Beispiele von Daniela Rentel.

Kurz: Wir müssen Entscheidungen treffen und genau deshalb brauchen wir eine Diskussion über die Werte, die uns in Zukunft wichtig sind. Die wiederum hat Angela Merkel aus unserer Sicht in den letzten Jahrzehnten zumindest, um es harmlos auszudrücken, nicht gefördert. Aber wir können sie führen, ab sofort, und sie einbringen über unsere Volksvertreterinnen und Volksvertreter.

Kommen Sie bitte gut durch diese Zeit und lassen Sie uns alle im Gespräch bleiben. Solange wir reden, können wir gestalten, ohne uns auf der Straße mit Eisenstangen und Brandsätzen zu begegnen, wie wir das bereits aus anderen europäischen Ländern pünktlich zu Halloween im Fernsehen und im Internet anschauen »durften«.

Carmen Frese-Kroll, Verlegerin
Anatol Hennig, Verlagsleiter
Oliver Fiedler, Chefredakteur

Autor:

Redaktion aus Singen

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