Zum 70. Geburtstag des Kinderdorfes in Stockach-Wahlwies: Interview mit Geschäftsführer Bernd Löhne
Hände zum Helfen

Bernd Löhle Geschäftsführer des Kinderdorfs in Wahlweise  | Foto: Ein Freund und Beherrscher systematischer Modelle: Bernd Löhle, Geschäftsführer des Pestalozzi-Kinderdorfs in Wahlwies.swb-Bild: sw
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Stockach-Wahlwies. Das Pestalozzi-Kinderdorf in Stockach-Wahlwies wird 70 Jahre alt und feiert diesen »Runden« das ganze Jahr über. Ein Gespräch dazu mit Geschäftsführer Bernd Löhle.

WOCHENBLATT: 70 Jahre sind ja streng genommen kein echtes Jubiläum, weil die Zahl nicht durch 25 teilbar ist. Sie feiern dennoch?

Bernd Löhle: Wir möchten einfach »danke« sagen – unseren Mitarbeitern, Spendern sowie den Stiftungen, die uns seit vielen Jahren, zum Teil seit Jahrzehnten, unterstützen.

WOCHENBLATT: Sie kamen ja aus der freien Wirtschaft ins Kinderdorf. Ist die Arbeit in einer sozialen Einrichtung anders als auf dem freien Markt?

Bernd Löhle: Auf jeden Fall. In der freien Wirtschaft werden Bereiche, die sich nicht rechnen oder tragen, geschlossen. Diese Umstrukturierungsmaßnahmen können für alle sehr unangenehm sein, vor allem wenn Mitarbeiter entlassen werden müssen, die eine hervorragende Arbeit geleistet haben. Im Kinderdorf versuchen wir, Bereiche, die nicht von öffentlichen Trägern finanziert werden, aber sehr wichtig für eine positive Entwicklung unserer Kinder sind, zum Beispiel durch Spenden aufrechtzuerhalten oder durch andere positive Bereiche auszugleichen.

WOCHENBLATT: Und wie steht das Kinderdorf angesichts dieser Philosophie finanziell da?

Bernd Löhle: Als ich 2010 die Funktion des Geschäftsführers übernehmen durfte, waren die jährlichen Verluste für die Zukunft der Einrichtung sehr bedrohlich. Mittlerweile haben wir das Ziel erreicht, in 2016 ein ausgeglichenes Ergebnis zu schaffen. Erreicht haben wir das, weil wir unter anderem die Umsätze im Bereich Pädagogik seit 2009 verdreifacht haben. Wir bekommen zwar Geld von den Jugendämtern zur Deckung von Personal- und Sachkosten, doch wir sind weiterhin auf Spenden und Erbschaften angewiesen.

WOCHENBLATT: In Ihren Ausbildungsbetrieben werden Jugendliche zu Fachpraktikern ausgebildet. Haben sie Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt?

Bernd Löhle: Ja, weil unsere Betriebe auch für den ersten Arbeitsmarkt produzieren, und wir reguläre Azubis haben, die zusammen mit den anderen lernen und arbeiten. Durch diese Form der Integration und das Wirken an einem »marktüblichen« Arbeitsplatz kommen unsere Jugendlichen später mit den Belastungen und Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes besser zurecht. Unsere Fachkpraktiker im Bereich Schreinerei, Maler, Lackierer und Hauswirtschaft kommen alle unter. Und wir wollen die Hauswirtschaftsausbildung in Richtung Alten- und Seniorenpflege erweitern, da es hier einen großen Bedarf gibt.

WOCHENBLATT: Das Kinderdorf betreut auch unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge. Wie sind hier Ihre Erfahrungen?

Bernd Löhle: Vollstationär werden 60 Jugendliche versorgt, und wir haben einige zusätzliche Wohnungen für betreutes Jugendwohnen außerhalb des Kinderdorfes. Hier geht es dann vor allem um die Verselbstständigung unserer Flüchtlinge. Oft haben sie dann schon einen Schulabschluss und stecken in der beruflichen Orientierung. Wenn unbegleitete Flüchtlinge über die Grenze kommen, werden sie in unserer Inobhutnahmestelle in Markelfingen aufgenommen, wo sie erst einmal ankommen können. Wenn sie dann nicht auf andere Bundesländer verteilt werden, kommen sie in eine unserer Wohngruppen. Betreutes Wohnen und schließlich die eigene Wohnung stehen dann am Ende unseres Konzeptes der sozialräumlichen Integration.

WOCHENBLATT: Im Kinderdorf wohnen Kinder und Jugendliche, die nicht mehr zu Hause leben können, in »familienanalogen Strukturen« in Kinderdorffamilien mit bis zu sechs Kindern. Ist da eine intensive Betreuung überhaupt möglich?

Bernd Löhle: 97 Prozent vergleichbarer Einrichtungen arbeiten im Mehrschichtbetrieb, bei uns sind die Kinder 24 Stunden am Tag in Familien mit einer Kinderdorfmutter und einem -vater untergebracht. Diese Kinderdorfeltern werden von einer pädagogischen Fachkraft unterstützt. Die notwendigen unterstützenden Leistungen werden von unseren Betrieben wie der Küche oder der Hauswirtschaft zumindest wochentags erbracht. Es gibt also eine intensive Erziehungsbegleitung sowie Krankheits- und Urlaubsregelungen. So ist die Belastung zwar immer noch hoch, aber die Abbrecherquote ist relativ gering und wir können Kontinuität anbieten.

WOCHENBLATT: Das Kinderdorf betreut auch unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge. Wie sind hier Ihre Erfahrungen?

Bernd Löhle: Vollstationär werden 60 Jugendliche versorgt und wir haben einige zusätzliche Wohnungen für betreutes Jugendwohnen außerhalb des Kinderdorfes. Hier geht es dann vor allem um die Verselbstständigung unserer Flüchtlinge. Oft haben sie dann schon einen Schulabschluss und stecken in der beruflichen Orientierung. Wenn unbegleitete Flüchtlinge über die Grenze kommen, werden sie in unserer Inobhutnahmestelle in Markelfingen aufgenommen, wo sie erst einmal ankommen können. Wenn sie dann nicht auf andere Bundesländer verteilt werden, kommen sie in eine unserer Wohngruppen. Betreutes Wohnen und schließlich die eigene Wohnung stehen dann am Ende unseres Konzeptes der sozialräumlichen Integration.

WOCHENBLATT: Bioprodukte geraten immer wieder in die Kritik. Ist im Kinderdorf alles 100 Prozent Bio?

Bernd Löhle: Unsere landwirtschaftlichen Betriebe sind demeter-zertifiziert – und das spricht für die höchsten Anforderungen im Biobereich, auch was die Ethik in der Tierhaltung angeht. Im Anbau ist also alles 100 Prozent Bio. Doch bei den Mittagessen – wir kochen 1.300 Essen am Tag für Schulen, Betriebe oder den Eigenbedarf – können wir natürlich nicht alles in bio liefern, dazu gehören zum Beispiel Geflügel oder bestimmte Gewürze, weil das den Preisrahmen sprengen würde. Aber große Anteile der Mahlzeiten sind Bio. Mittlerweile können Kunden auch unter pestalozzi-bringt-bio.de bei uns bestellen und wir liefern die Ware bei den Kunden an.

WOCHENBLATT: Mahlzeiten in solchen Mengen zu produzieren, ist schwierig. Kommt es häufig zu Reklamationen bei den gelieferten Essen?

Bernd Löhle: Wir könnten auch 500 Essen mehr produzieren – so groß ist die Nachfrage. Doch das tun wir nicht, weil wir mit unseren Räumlichkeiten in der Küche die Kapazitätsgrenze erreicht haben. Reklamationen kommen in Ausnahmefällen vor. Diese werden unverzüglich abgearbeitet.

WOCHENBLATT: Sie haben 450 Mitarbeiter im Kinderdorf. Kommt es da häufig zu Personalwechseln?

Bernd Löhle: Im Vergleich zu anderen sozialen Einrichtungen ist unsere Fluktuation gering. Wir versuchen, einen gewissen Mehrwert für die Mitarbeiter zu schaffen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Klar, in der Industrie verdient man mehr. Die Menschen arbeiten aber nicht wegen des Geldes bei uns, sondern weil sie ihren Teil dazu beitragen wollen, Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen eine Zukunft zu bieten. Und wir haben das Kinderdorf vor einigen Jahren neu strukturiert: Unterstützt werde ich bei meiner Arbeit von vier Ressorts – Pädagogik, Schule, Betriebe/Finanzen sowie Kommunikation/Fundraising. Die ganze Arbeit hier ist eine Teamleistung.

WOCHENBLATT: Welche Zukunftspläne hat das Kinderdorf in seinem Jubiläumsjahr

Bernd Löhle: Es gibt viele Dinge, die wir in den letzten Jahren verändert haben, aber auch viel Altbewährtes. Das wollen wir in der Zukunft fortführen und selbstverständlich auf besondere Bedürfnisse der Schwächsten reagieren. Hier ist es so, wie in jedem anderen Industrieunternehmen auch. Man muss sehen, welche Fähigkeiten und Kenntnisse die Mitarbeiter und das Management mitbringen und falls notwendig Veränderungsprozesse anregen. Das setzen wir dann entweder durch Weiterbildungs- und Schulungsmaßnahmen um oder wir holen uns neues Know-how in die Organisation. Das Wichtigste ist, dass wir hier für Kinder und Jugendliche arbeiten, sie eine echte Chance für ihr weiteres Leben erhalten und wir alle dieses Ziel unterstützen. Damit meine ich nicht nur unsere Mitarbeiter, sondern alle Bürger aus der Region. Ganz nach der Maxime »Gott hat keine Hände, nur die unsrigen«. Aber weil Sie nach Zukunftsplänen fragen: Das 75-Jährige werden wir bestimmt auch wieder feiern.

- Simone Weiß

Autor:

Redaktion aus Singen

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