WOCHENBLATT-Interview mit Kerstin Andreae von den »Grünen«
Keine Rezepte von Vorgestern

Kerstin Andreae | Foto: Kerstin Andrea ist die stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag.swb-Bild: Fotografin: DBT/Inga Haar
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Stockach/Wahlwies. Sie kam an Stelle des wahlkämpferisch verhinderten Bundesvorsitzenden Cem Özdemir und machte ihre Sache gut. Kerstin Andreae, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, war die Gastrednerin zum 70. Geburtstag des Pestalozzi-Kinder- und -Jugenddorfs in Stockach-Wahlwies und stand dem WOCHENBLATT Rede und Antwort.

WOCHENBLATT: Windkraft sorgt für Diskussionen. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Kerstin Andreae: Wir brauchen den konsequenten Umstieg auf erneuerbare Energien. Wir steigen endlich – nach der zeitlichen Verzögerung durch die unklare Politik von Kanzlerin Merkel – aus der Atomenergie aus. Das ist gut! Aber Kohle kann nicht die Antwort sein, sondern es sind die erneuerbaren Energien. Das rechnet sich auch ökonomisch. Wir steigen teilweise schon aus der Förderung dafür aus. Wir haben genügend Energiequellen – die Sonne scheint, der Wind bläst. Nun müssen wie sie richtig nutzen.

WOCHENBLATT: Die Umfrage-Werte der »Grünen« im Bund sind nicht berauschend. Wie wollen Sie die Zahlen bis zur Bundestagswahl aufhübschen?

Kerstin Andreae: Das sind Warnsignale, die wir sehr ernst nehmen, auch wenn es sich um Momentaufnahmen handelt und wir in den vergangenen Monaten viel Bewegung in den Umfragewerten verschiedener Parteien gesehen haben. Es ist noch nichts entschieden, noch hat kein Wähler sein Kreuzchen gemacht. Wir haben noch fünf Monate Zeit, und es geht nun darum, dass wir Themen, die für uns wichtig sind, in den Vordergrund stellen – Ökologie, weltoffene Gesellschaft, starkes Europa, soziale Gerechtigkeit – und mit unseren Vorschlägen und Konzepten für eine bessere Zukunft die Bevölkerung überzeugen.

WOCHENBLATT: Wie kann das geschehen?

Kerstin Andreae: Wir sehen durch das Erstarken der AfD die Gefahr, dass die Deutungshoheit von rechts übernommen wird. Die Union rückt nach rechts, die CSU steht rechts – da ist es wichtig, deutlich zu machen, dass wir in einer toleranten, weltoffenen Gesellschaft leben und weiterhin leben wollen. Das betrifft die Integration von Menschen, die nicht hier geboren sind, die doppelte Staatsbürgerschaft, aber auch die Lebenssituation von Frauen und Familien. Rezepte von vorgestern und ein Zurück in die scheinbar heile Welt von früher wollen wir nicht.

WOCHENBLATT: Gerade die doppelte Staatsbürgerschaft ist ja in die Diskussion geraten?

Kerstin Andreae: Das Thema doppelte Staatsbürgerschaft ist genau wie das öffentliche Sinnieren über Burka-Verbote oder eine »Leitkultur« lediglich dazu geeignet, die Debatte anzuheizen und eine feindselige Grundstimmung zu erzeugen. Am Ende führt die Frage am Thema vorbei, der Punkt ist doch: Wie gelingt Integration? Wie gelingt es, dass Menschen sich zu unserem Grundgesetz bekennen, ihre Pflichten erfüllen und ihre Rechte ausüben? Das Thema doppelte Staatsbürgerschaft ist da nicht zentral. Frau Merkel sagt: »Ein Türkischstämmiger mit Doppelpass kann ebenso loyal zu Deutschland stehen wie ein Türkischstämmiger, der nur die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt.q So sehe ich das auch.

WOCHENBLATT: Schwarz-Grün im Bund. Ginge das – »grüne« Politik und Horst Seehofer?

Kerstin Andreae: Erst einmal geht es um ein starkes grünes Ergebnis. Damit wir bei einer potentiellen Regierungsbeteiligung möglichst viele unserer Inhalte durchsetzen können. Klar wäre Horst Seehofer ein schwieriger Partner für uns, doch Sarah Wagenknecht wäre auch eine schwierige Partnerin. Es wird darauf ankommen, was man in Koalitionsverträgen verhandeln kann und ob die »grünen« Punkte wie Kohleausstieg, Einwanderungsgesetz, Ökologie im Zentrum der Ökonomie, eine zukunftsfähige Automobilwirtschaft, eine Landwirtschaft ohne Massentierhaltung umgesetzt werden können. Dann ist eine »grüne« Regierungsbeteiligung möglich. Doch fünf Monate vor der Wahl kann man sich Farbenspiele sparen.

WOCHENBLATT: Auch das rot-rot-grüne Farbenspiel?

Kerstin Andreae: Wenn man die »Grünen« wählt, bekommt man die »Grünen«, und wer da Kanzler ist, ist nicht die originäre Frage für uns. Es war klar, dass der Martin-Schulz-Effekt auch wegen der unklaren Positionierungen nicht lange anhalten würde. Jetzt wird Schulz zunehmend deutlicher werden müssen in den Inhalten. Wie er sich im Einzelnen zu Themen verhält, muss er mit sich und seiner SPD ausmachen. Die Regierungsfähigkeit der Linken sehe ich zumindest nicht richtig gegeben.

WOCHENBLATT: Was wäre denn Ihre Koalitionspräferenz?

Kerstin Andreae: Dafür ist es noch zu früh. Es werden wahrscheinlich sechs Fraktionen in den Bundestag einziehen, und ich möchte vor allem keine Große Koalition mehr. Sie stärkt die Ränder links und rechts, sie stärkt Populisten. Und Populisten ist daran gelegen, Probleme zu benennen und zu konstruieren, um daraus Kapital zu schlagen, aber nicht daran, Lösungen zu finden. Eine große Koalition geht zudem an die Grundfeste der Demokratie. Wenn wir, wie derzeit, eine 83-Prozent-Regierung und eine 17-Prozent-Opposition haben, dann stimmt die demokratische Balance nicht mehr. Und schließlich: Große Koalitionen einigen sich meist auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Und der ist auch noch teuer: Die Rentenpolitik geht zum Beispiel zu Lasten jüngerer Beitragszahler und jüngerer Generationen.

WOCHENBLATT: Sie stehen ja auch für die Frauenquote. Meinen Sie nicht, dass es Frauen aus eigener Kraft schaffen können?

Kerstin Andreae: Ich kenne großartige Frauen, die es aus eigener Kraft geschafft haben, und ich würde nie einer Frau unterstellen, sie habe ihre Position nur wegen der Quote. Ich sehe aber auch die männerdominierten Strukturen in der Wirtschaft, der Politik, an den Hochschulen, und darum sind Instrumente, die Frauen Türen und Chancen eröffnen, wichtig und notwendig.

WOCHENBLATT: Und wie schaffen Sie das – Bundestagsmandat und drei Kinder?

Kerstin Andreae: Mein Mann fühlt sich mit in der Verantwortung, wir haben das sehr gut strukturiert und haben auch eine Kinderfrau. Wir können uns das zum Glück auch leisten. Wir haben Großeltern, die uns unterstützen, und ich schlafe vermutlich weniger als andere.

- Simone Weiß

Autor:

Redaktion aus Singen

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