Reflektion zum Radolfzeller Klinikskandal
Mein journalistisches Lehrstück

Anatol Hennig, Herausgeber und Verlagsleiter des Wochenblatts | Foto: Anatol Hennig
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  • Anatol Hennig, Herausgeber und Verlagsleiter des Wochenblatts
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Ein Tag rund um den Jahreswechsel 1993/1994: Ein junger Mann (wahrscheinlich dynamisch, etwas arrogant und ernst, moralisch motiviert, gleichzeitig etwas demütig und immer auf der Hut vor der eigenen Kraft und Siegessicherheit), also ich, mit 23, klingle und fühle mich wie eine Mischung aus Geheimagent und Verräter. Die Türe geht auf, ich gehe hinein, bekomme Kaffee angeboten. Ich wollte dieses Gespräch. Und in dem Gespräch erfahre ich etwas darüber, was im Radolfzeller Krankenhaus für Verhältnisse herrschen würden. Frage nach, gleiche ab, versuche Meinung von Tatsachen zu trennen, bekomme Belege zu sehen. Recherche. Mit wem ich gesprochen habe? Wo? Sage ich nicht. Heute nicht, damals nicht. Nie. Journalisten müssen ihre Informanten schützen. Auch wenn der Chef der Radolfzeller Verwaltung damals mit vielen Mitteln versucht hat, herauszubekommen, mit wem ich gesprochen habe.

Es ging um Operationen, die an einem Krankenhaus der Grundversorgung so wohl nicht hätten sein dürfen, um 13 umstrittene Behandlungsfälle, teilweise mit mittelbarer Todesfolge, um Umgangstöne und zwischenmenschliche Drohungen, die schon damals nicht mehr „normal“ im Arbeitsleben waren und um einen Verwaltungschef, der den Chefarzt, um den es ging, deckte – mit Manipulationen aller Art. Manipulationen, welche die Menschen gerne anwenden, die nicht zuhören wollen, die sich Fakten nicht stellen wollen. Etwas, gegen was ich bis heute eine „Allergie“ habe. Es war vor allem der Versuch, das Problem als reinen Ärztestreit zu propagieren, was er eben nicht nur war.

Schweigen
Und mir war klar: wenn ich schreiben würde, würde das Krankenhaus auch erst einmal ein Imageproblem bekommen und der Fall würde größere Kreise ziehen. Klar: Das Bild in der Bevölkerung würde anders werden. Aber die Zahl derer, die dem Wirken des damaligen Chefchirurgen nicht mehr weiter zuschauen konnten und wollten, war groß, auch bei den niedergelassenen Ärzten. Hinter den Kulissen waren die Verhältnisse im Krankenhaus schon lange Thema in Radolfzell gewesen. Das wussten auch die Journalisten vor Ort, aber sie schwiegen. Das ist die Gefahr im Lokaljournalismus: Zu nah dran. Wobei: Wer als Lokaljournalist zu weit weg ist von den Menschen vor Ort, der liegt auch nicht richtig. Da braucht es eine dynamische Balance. Eine Lebensaufgabe für einen Lokaljournalisten.

Jetzt raus damit
Die Fakten, die ich gesehen habe, die ich mir anhörte, sie schockten mich und riefen mich. Gleichzeitig wollte ich nicht der sein, den man da vorschickt, weil andere sich selbst nicht outen wollen und ich wusste auch, dass ich im Zweifelsfall beweisen müsste und wollte, was ich schreibe. Ich war offensiv, aber sicherheitsbewusst. Und so entschied ich mich dafür, mich langsam vorzutasten, ermunterte die politischen Hintergrundstimmen, in den Vordergrund zu treten. Ließ Informationen häppchenweise ins Blatt. Die Stuttgarter Zeitung stieg ebenfalls ins Thema ein, dann auch die Tageszeitung vor Ort. Der Radolfzeller Klinikskandal rund um den früheren Chefchirurgen, er kam ins Rollen. In meinem Hintergrund war Hans-
Paul Lichtwald, damaliger Wochenblattchefredakteur und für mich Mentor, auch in diesem Fall. Er war weniger Heißsporn als ich und das war gut so. Ich habe ihm viel zu verdanken.

Die Sachlage im Radolfzeller Krankenhaus und die menschlichen Verstrickungen bis ins Rathaus waren komplex und ich ja kein Mediziner. Schwer greif- und vermittelbar das Thema, auch wenn für mich klar war: So wird es im Radolfzeller Klinikum nicht weitergehen können. Bislang ging es scheinbar nur um Zwischenmenschliches und um einen politischen Konflikt. Das war aber nicht das, um was es wirklich ging. Am 16. Februar 1994 beschrieb ich einen konkreten Fall, der im Krankenhaus operiert worden war und den ich Werner S. nannte. Vorher hatte ich von einem Spiegelredakteur erfahren, wie es geht, Informationen bei gleichzeitigem Informantenschutz gerichtssicher zu machen.

Der Verlag Singener Wochenblatt, das Blättle, wie viele dazu sagten und heute noch sagen, er hat mich unterstützt, die Verantwortlichen mir vertraut. Keine Selbstverständlichkeit. Und dafür bin ich dankbar bis heute. Früher übrigens hat man mich ärgern können, wenn man das Wochenblatt Blättle nennt, heute sehe ich das etwas entspannter: Was man mag, für das findet man Koseworte… Gleichzeitig reagiere ich heute noch sensibel, wenn im Hause die „Blättleanteile“ im Team Oberhand gewinnen über die „Zeitungsanteile“.

Der Skandal nahm seinen Lauf, der Verwaltungschef gab die Zuständigkeit für das Krankenhaus für eine Zeitlang ab, der Chefchirurg wurde verabschiedet.
Die Patientenzahlen vor allem in der Chirurgie gingen natürlich runter aufgrund der beschriebenen Verhältnisse.

Im Gemeinderat in Radolfzell waren zu dieser Zeit auch einige schlaue Köpfe, ich glaube, da war auch schon Altersweisheit dabei. Und so wurde politisch mit der Klinik und dem Skandal sehr verantwortungsvoll umgegangen. Die Hintergrundgespräche, die ich dann führte, faszinierten mich. Und mir wurde schon damals klar, dass der Lokaljournalist, der erst aufdeckt und auf Distanz geht, jetzt auch eine Verantwortung hat, zu beschreiben, was wieder gut läuft. Damit das Vertrauen wieder hergestellt werden kann. Also wieder näher ran geht.
Das unterscheidet den Lokaljournalismus vom „großen Journalismus“. Man bekommt die Folgen der eigenen Veröffentlichungen direkt dort mit, wo das Beschriebene passiert. Und hat eine andere Verantwortung.

Würde ich heute wieder schreiben?
Ja. Ein Fall wie der des Chefchirurgen, der in völliger Ignoranz gegenüber der Funktion eines Krankenhauses der Grundversorgung seinen Neigungen und seinem Ehrgeiz nachgeht und dabei sogar in Kauf nimmt, dass Patienten nach seiner Behandlung sterben können, weil die Nachversorgung vor Ort nicht gewährleistet sein kann, der vom Verwaltungschef gedeckt wird und eine wirkliche Beurteilung seines Tuns mit formaljuristischen Tricks verhindert, wäre auch heute journalistische Aufgabe.

Aber heute ist nicht 1993 oder 1994. Das Radolfzeller Krankenhaus ist heute geschlossen. Nicht, weil dort nicht ordentlich gearbeitet worden wäre, sondern weil das Gesundheitssystem in Deutschland unter Druck ist und es wahrscheinlich sogar selbst mittlerweile das Hauptproblem ist: Die falschen Anreize (Diagnosepauschale), Demografiewandel, zu viel Geld, das in Bürokratie (Dokumentationspflichten), in nicht angemessene Behandlungsformen (damit Geld verdient werden kann) und in Richtung Pharmaindustrie fließt und zu wenig Geld, das in Richtung menschliche Betreuung fließt und zu viele Menschen, die aus jeder Mücke einen Elefanten machen und in die Notaufnahme rennen.

Relevanz
Zurückschauend würde ich mir wünschen, dass Journalisten wieder mehr wirklichen Fakten hinterhergehen, sie verfolgen, den roten Faden suchen und finden, um zu beschreiben, was ist. Und dabei das auszuwählen, was wirklich relevant ist, nicht für sie persönlich, sondern für die Menschen im jeweiligen Wirkungsbereich des Beschriebenen. Aber der Journalismus ist heute von mindestens vier (anderen) Seiten getrieben:

Erstens:
Social-Media-Plattformen haben, politisch durchgewunken, den Journalismus vom Leben ins Überleben gedrängt, wer nur noch ums Überleben kämpft, kann seine Arbeit nicht mehr gut machen und schon gar nicht mehr kreativ, reflektiert und mutig. Das Überleben frisst zu viele Ressourcen und jetzt wundern sich alle darüber, dass „Qualitätsmedien“ Clickbaiting nötig haben.

Zweitens:
Heutige Vorstellungen, wie Arbeit zu sein hat und immer mehr Nebenbei-Arbeit lassen intensives Recherchieren und sich auf Themen einlassen nicht mehr so zu wie früher. Es gibt zu wenig Journalist*innen und zu viele Producer, Storyteller, SEO-Experten, Influencer, Contentmakler und –Tuner. Und in den Verlagen zu viele Nebenkriegsschauplätze, die den Fokus aufs Wesentliche verhindern.

Drittens:
Journalismus wird heute oft von subjektiven Ideen getrieben, wie die Welt sein sollte, die scheinbar unverhandelbar sind. Das ist perse nicht schlecht. Es wird dann schlecht, wenn Journalisten keine Selbstdistanz mehr haben und sich zu ihren Weltideen einseitig Studien und Wahrnehmungen heranziehen, ohne noch die andere Seite anzuschauen. So entstehen Faktenchecks, die mit Tatsachen wenig bis gar nichts zu tun haben.

Viertens:
Konzernen und ihren Agenturen etc. ist der Wert von Journalismus zu wenig wert. Da wurden in den letzten Jahrzehnten von Managern auf beiden Seiten des Verhandlungstisches Billigstkonditionen ausgehandelt, wo es notwendig gewesen wäre, die Wichtigkeit von journalistischen Medien für die Gesellschaft zu stützen. Zum Schluss verlieren dabei alle, weil der Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet ist.

Alles schlecht?
Nein: Ich bin sehr glücklich über unser Wochenblattteam, das sich den Anforderungen in Welt eins stellt, für guten, nachvollziehbaren Journalismus kämpft und im Werbemarkt bereit ist, für gutes Geld eine gute, manchmal auch ambitionierte Leistung zu erarbeiten, mit messbarer Wirkung für die Werbetreibenden. Und ich bin froh, dass wir ein Lokalmedium sind: Weil hier vor Ort ist die Realität sichtbar. Hier vor Ort funktionieren die großen Ideen oder scheitern. Und hier vor Ort braucht eine starke (reflektierende) Stimme und Information für möglichst viele. Weil nur so Zusammenhalt möglich ist, weil man eine gemeinsame Informationsbasis hat, über die man diskutieren kann.

Und während ich das so schreibe,
denke ich: Es braucht eine Revolution für den Lokal-Journalismus; nein viele Revolutionen.

Portrait:

Name: Anatol Hennig

Alter: 53 Jahre

Start im Wochenblatt:
1992 (Danke Dir, Carmen) als Jungjournalist
Heute: Herausgeber und Verlagsleiter

Was mich treibt: Was zwischen uns Menschen ist, ist wichtig. Und deshalb haben wir eine Verantwortung dafür, wie wir es wahrnehmen und gestalten. Journalismus ist nicht als erstes Selbstdarstellung, sondern als erstes Dienst an der Gesellschaft. Und: Hübsche Verpackungen ohne Inhalte sind sinnlose Hüllen.

Mich verbindet mit der Region: Was ich mit anderen hier gestalten durfte sowie Freunde, Landschaft und die Nähe zu den Bergen.

Der Ort:

Foto: Anatol Hennig

Das Radolfzeller Krankenhaus: Hier war ich selbst 2020 "unterm Messer" (fünf Sterne) und mit den Vorgängen im Krankenhaus 1993/1994 lernte ich als junger Journalist nahezu alles zum Thema Journalismus, was mich bis heute prägt. Jetzt ist das Haus geschlossen. Weil Zentralisierung (oder Kontrollierbarkeit) und kollektive Verantwortungsflucht die neuen Mantren unserer Gesellschaft sind.

Anatol Hennig, Herausgeber und Verlagsleiter des Wochenblatts | Foto: Anatol Hennig
Foto: Anatol Hennig
Autor:

Anatol Hennig aus Singen

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