1965 Jahre nach Christus
Vom Waschkeller auf die Bühne eines verruchten Clubs

Fleißig hörte man die Songs von Elvis, Eddie Cochran, Paul Anka, Roy Orbison, Ricky Nelson, Buddy Holly, den Everly Brothers, Rolling Stones, Kinks, Cliff Richard und den Shadows auf den Frequenzen von Radio Luxemburg.

An Noten von den Stücken kam man nur sehr schwer heran, meistens musste man sie in den USA bestellen. Die deutschen Rundfunkanstalten spielten nur die »konservativen« Schlager. Proberäume wie man sie heute kennt, gab es nicht. Sowieso war jeder, der sich den »sündigen« Rhythmen hingab, »verrucht«. Doch das war genau das, was die Jugendlichen damals bewegte: Revolution - den Gehorsam in Frage stellen und gegen das, was Eltern und Lehrer von einem sehen wollten, demonstrieren. »Eine Freundin durfte man nur hinten herum haben«, so Hans-Jürgen Olbrich von den »Raddows«, einer anderen Band aus dieser Zeit. Michael Schwendemann von den Ghostriders, der heute mit seiner Familie in der Schweiz lebt und als Diplom-Volkswirt Geschäftsführer eines Unternehmens in Zürich ist, erinnert sich: »Mir kamen die 60er Jahre immer wie eine Metamorphose der Gesellschaft vor. Die Musik war der Wirt des Revolutions-Virus. Doch haben sich nicht alle anstecken lassen. Hauptsächlich drehte sich alles um Mädchen. Die Freundinnen der Bandmitglieder wechselten öfters. Man könnte es auch die Zeit des »Petting« bezeichnen. Das waren alles Dinge, die in der Öffentlichkeit als verrucht abgestempelt wurden.

Die Gemüter waren damals sehr in Richtung Frankreich orientiert. Das Jugend-Magazin »Salut les copains« lüftete mit Interviews und Konzertreportagen die Kulissen der großen Stars. Das war eines der wenigen Informationsquellen die wir hatten. Die, die damals in Bands gespielt haben, hatten in den Schulklassen das Sagen. Doch außer uns bildeten sich natürlich noch weitere Beat-Bands, so wie die Tramps aus Radolfzell oder die Tigers, die hauptsächlich Kinks-Stücke spielten. Fast jede Klasse hatte ihre Band. Aufgetreten sind wir in Kellern, die zu »Clubs« umgestaltet wurden, so wie zum Beispiel Club 10, Blaue Grotte oder Knuts Pinte. Der Adlersaal war auch ein beliebter Veranstaltungsort für Konzerte. Dort trafen sich dann alle, um mit den heißesten Mädels zu tanzen. Oft kamen wir erst zum Morgengrauen wieder nach Hause.« »Musikinstrumente waren auch zu unseren Anfangszeiten immer das große Manko«, gräbt Wolfgang Trautwein in seinen Erinnerungen an diese Zeit. Heute ist er die »rechte Hand« von OB Renner. Die »Raddows« formierten sich kurz nachdem die »Ghostriders« schon als populäre Band bekannt waren. »Gott sei dank gab es damals das Musikgeschäft Schächle.

Kaum waren die Beatles und die Rolling Stones Anfang der 60er Jahre auf dem deutschen Musik-Markt vertreten, trafen sich auch im Hegau die ersten Schüler in Waschküchen, um sich dort für die Bühnen der dunklen Clubs warm zu spielen. Auf einer Pfadfinder-Flussfahrt wurde die Band »Ghostriders« gegründet. Eine der damals am meisten angesagtesten Rock´n´Roll Bands im Hegau. Die Bandmitglieder waren allesamt Schüler des Hegau-Gymnasiums. Nicht einmal Instrumente konnten sich die jungen, im Durchschnitt 15- bis 16-jährigen Musiker, leisten. Banjo, Waschbrett, Gitarren, Mundharmonika und ein selbstgebauter Holz-Bass waren damals das Einstiegs-Equipment. Skiffle, Negro-Spirituals und die ersten Ansätze von Rock´n´Roll wurden auf den Elternabenden der Ministranten in Gemeindesälen und bei den ersten Auftritten im Hegau-Gymnasium »gezockt«.

Lydia Schächle (mittlerweile verstorben) bot auch Second-Hand-Gitarren zu erschwinglichen Preisen an. Auch die 120 Mark für eine gebrauchte waren damals eine Menge Geld. Bei Lydia Schächle konnten wir die Instrumente in 5 oder 10 Mark Raten abbezahlen. Zum Heraushören der Musikstücke musste, wenn vorhanden, das Familien-Grammophon herhalten. Eigene Stücke brauchte man gar nicht schreiben. Es gab so viele Songs die keiner kannte, da brauchten wir »nur« nachspielen.« Singen war seinerzeit eine Kleinstadt mit etwa 28000 Einwohner. Die Stadt war eindeutig in eine Nord- und Südstadt geteilt. Die meisten Schulen in Singen entstanden in den Jahren 1965 bis 1970. Interessant ist, dass die verruchten Bekannten der damaligen Musikszene Ministranten waren. So war es möglich, in diversen Gemeinderäumen zu proben. Hans Bold, einer der Ur-Ghostrider, ist heute sogar Pfarrer in einer Gemeinde bei Heidelberg. Ein weiteres Problem das vielen Jung-Bands das Musiker-Dasein erschwerte, war der Transport der Instrumente. Nicht jeder konnte sich in den 60ern ein Auto leisten. Doch die Ghostriders und die Raddows hatten Glück.

Durch die geldbringenden Auftritte haben sie Fahrwasser bekommen. Die Ghostriders hatten sehr schnell Auftritte bis in den Raum Zürich. Hans Wöhrle war damals schon ein großer Fan der Ghostriders. Schließlich gab Michael Schwendemann ihm damals Gitarrenunterricht. Als die Zeit reif war, stieg der heutige Schuhgeschäft-Unternehmer mit in das verruchte Geschehen ein. Doch die Hegau-Gymnasiasten blieben drogenfrei und behielten trotz aller Verrücktheiten klaren Kopf. Nach dem Abitur verliefen sich die Bandmitglieder in alle Richtungen. Einige studierten, andere lernten einen Beruf. Bewegt haben sie in den wilden 60ern Einiges. Die Ghostriders und die Raddows treten auch heute wieder mit den »verruchten« Stücken von damals auf.

Wolfgang Graf

Autor:

Redaktion aus Singen

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