Der dunkle Fleck der digitalisierten Gewalt
Auch das Internet ist kein rechtsfreier Raum

Die Problematik der digitalisierten und sexualisierten Gewalt wird weitgehend als Tabu gehandhabt und ist sehr schambehaftet. Umso größer sind dadurch jedoch die Auswirkungen, die sie bereits auf junge Altersgruppen hat. | Foto: swb-Montage: Amrit Raj
  • Die Problematik der digitalisierten und sexualisierten Gewalt wird weitgehend als Tabu gehandhabt und ist sehr schambehaftet. Umso größer sind dadurch jedoch die Auswirkungen, die sie bereits auf junge Altersgruppen hat.
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Landkreis Konstanz. Insbesondere während der Lockdowns und zu Zeiten des "Social Distancing" hat sich unser Sozialleben mehr und mehr in die digitale Welt verlagert. Das hatte und hat durchaus seine Vorteile, allerdings wurde dadurch auch eine Vielzahl an Problematiken rasant beschleunigt. Dazu zählt die extreme Zunahme der digitalisierten Gewalt an und unter Kindern und Jugendlichen.

Dem widmete sich am vergangenen Donnerstag, 11. Mai, eine Online-Tagung für pädagogische Fachkräfte, zu der die Singener Kriminalprävention einlud, um bei dieser Thematik zu unterstützen und zu schulen. Finanziert wurde das Projekt aus dem Bundesprogramm "Demokratie leben", fachliche Beiträge kamen von Cordelia Moore, Beraterin für geschlechterspezifische Gewalt aus Hamburg, und Anna Wegscheider, eine der internen Juristinnen bei HateAid, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für die Bewahrung der Menschenrechte im digitalen Raum einsetzt.

Keine neue Gewaltform

Die Auswirkungen der digitalisierten Gewalt sind dabei ebenso vielfältig, wie außerhalb des digitalen Raums: Von psychischer über physischer bis hin zu sexualisierter Gewalt. Sie ist laut Cordelia Moore breit gefächert und umfasst zwischen Hasskommentaren1 (Erklärungen weiter unten), Cybermobbing2 und bildbasierter sexualisierter Gewalt3 ein sehr weites Spektrum. Bisher gebe es in diesem Bereich wenig Forschung, um das tatsächliche Ausmaß dieser Gewalthandlungen abzuschätzen. Sie sieht darin auch keine neue Gewaltform, sondern eine "Digitalisierung der vorhandenen Formen mit einer Verstärkung". Grund sind etwa die spezifischen Herausforderungen, weil digitale Daten "ewig sichtbar" sind und die Reichweite der Inhalte deutlich größer ist. Kinder und Jugendliche sehen nach ihrer Meinung keinen Unterschied zwischen "real" und "digital", entsprechend gleich sind auch die damit verbundenen Gefühle, wie Angst und Hoffnungslosigkeit. Aus ihrer Erfahrung als Beraterin berichtet sie, dass die Belastung für Betroffene sogar noch zugenommen habe.

Was Pädagogen zum Thema sagen:

Schulen stark betroffen

Die Gewalttaten im Netz unterteilt Moore grob in zwei "Phänomene": Taten im nahen sozialen Bereich oder solche im öffentlich sozialen Raum. Der nahe soziale Bereich schließt dabei beispielsweise Cybermobbing und das ungewollte Verbreiten von intimen Bildern ein, die Täter sind hier meist bekannt. Im öffentlich sozialen Raum sind etwa Hasskommentare oder das Cybergrooming4 bekannte Beispiele, wo die "vermeintliche Anonymität" eine besonders große Rolle spiele, so Moore.
Auch ohne Zahlen steht für Cordelia Moore fest, dass sich die Vorfälle im digitalen Raum deutlich mehren. Schon durch die Häufigkeit seien viele Jugendliche der Auffassung, dass beispielsweise Hass im Netz und Dickpics5 einfach beim Digitalen dazugehören. Den Betroffenen sei oft nicht bewusst, dass sie sich bereits frühzeitig Hilfe suchen und eine Anzeige erstatten könnten.

Jeder Empfänger theoretisch strafbar

Einen expliziten Blick wirft Cordelia Moore auch auf Cybermobbing. Wenn hier etwa private Bilder in Umlauf kommen, verbreiten sich diese rasend schnell. Gerade bei intimen Inhalten würde hier nicht über Probleme gesprochen. Dabei sei Sexting6 zu betreiben oder Nudes7 anzufertigen, an sich eher in einer Grauzone einzuordnen, solange es freiwillig geschieht. Die Straftat sieht Cordelia Moore im Fall einer Sextortionbei den Täternund der unerwünschten Weiterverbreitung: "Das Einverständnis, gilt für den einen Empfänger. Nicht für die 30 weiteren, falls es weitergeschickt wird!" Hier macht sich jeder Empfänger, wie auch bei Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche9 allgemein, potenziell strafbar.

Für damit konfrontierte Fachpersonen sei besonders wichtig, das Digitale differenziert zu betrachten, findet Moore. Entscheidend sei es, den Jugendlichen beizubringen, die Vorteile für sich zu nutzen, sowie mit den nachteiligen Aspekten und deren Folgen umzugehen. Bereits vorhandene Qualifikationen seien durchaus gut anwendbar, nur technische und rechtliche Aspekte müsse man teils "aufstocken". Werde es hier allerdings zu komplex, rät sie zur Unterstützung und Vernetzung untereinander, auch generell sollte immer mit einer Beratungsstelle gearbeitet werden, etwa um Beweise rechtssicher festzuhalten.

Kompetente Beratung

Im zweiten Teil der Veranstaltung teilte Anna Wegscheider, Juristin von HateAid, ihr Fachwissen. Als erste bundesweite Beratungsstelle für Betroffene digitaler Gewalt habe man dort seit der Gründung 2018 etwa 2.000 Fälle betreut. Neben Tipps zu präventiven Maßnahmen werden hier auch Betroffene begleitet und Zivilklagen unter Umständen finanziell unterstützt. In der dauerhaften Deaktivierung des Social Media-Profil sieht sie keine Lösung. Schon jetzt traue sich etwa jede zweite Person nicht, ihre Meinung online zu teilen, aus Angst, angegriffen zu werden. Besonders wichtig für die Strafverfolgung ist in jedem Fall das Erstellen von rechtssicheren Screenshots, für die HateAid einen Leitfaden mit den notwendigen Inhalten zusammengestellt habe.

Neben einer Anzeige oder Klage bestehe für Betroffene auch die Möglichkeit, den verletzenden Beitrag löschen zu lassen. Mit der Online-Wache gebe es inzwischen eine komfortable Möglichkeit, in wenigen Minuten eine Anzeige zu stellen.
Gerade die Wichtigkeit von Anzeigen betont Anna Wegscheider, denn noch immer gebe es einen enormen Bereich, der nicht angezeigt werde. Diese können auf die potenziellen Täter noch zusätzlich abschreckend wirken, auch würde die Kriminalstatistik dann das Geschehen umfänglicher abbilden.

Als Ansprechpartner für ihre Kinder sollten auch die Eltern eine zentrale Rolle spielen. Eltern müssten laut Anna Wegscheider ein Bewusstsein bekommen, was die Jugendlichen beschäftigt und sich damit mit ihnen gemeinsam auseinandersetzen. Die Haltung "Du kannst mit allem, auch damit zu mir kommen" kann bewirken, dass das Thema weniger schambehaftet ist.

Schutzkonzepte

Um Extremfällen der digitalisierten Gewalt vorzubeugen, arbeiten immer mehr Einrichtungen an Schutzkonzepten, so auch Marietta Schons als Abteilungsleiterin der Schulsozialarbeit in Singen. Dabei habe sie das Thema an den Schulen förmlich "überrollt". Seit September 2022 arbeite man an einem Leitfaden für die vier Bereiche der Einzelfallhilfe, der Arbeit in den Klassen, der Konflikthilfe und dem Kinderschutz. In allen diesen Bereichen müsse auch die digitalisierte Gewalt berücksichtigt werden. Bestandteile des Schutzkonzepts sind beispielsweise ein Leitbild oder intervenierende Maßnahmen, in der man die Betroffenen, die Klasse und Eltern beteilige. Das Konzept müsse immer anpassbar bleiben. Vom Schulamt brauche es zudem ein Verantwortungskonzept mit Schulungen der Lehrer.

Beispiele für Fachstellen:

Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen    
08000 116 016

Nummer gegen Kummer      
116-111

pro familia Singen            
Feuerwehrstraße 1, 78224 Singen; 07731 61120

Vertrauensstelle bei sexuellem Missbrauch      
Max-Stromeyer-Straße 172, 78467 Konstanz

Online-Beratung für Jugendliche    
juuuport.de

Rechtliche Einschätzung, Anleitungen   
hateaid.org

Dickpics anzeigen          
dickstinction.com

Betroffeneninitiative       
annanackt.com

Beratung für zur Tat Neigende          
pfunzkerle.org

Definitionen der Begriffe:

Da der Bereich der digitalisierten (sexuellen) Gewalt viele Aspekte hat und durch viele Begriffe aus dem Englischen geprägt sind, werden hier einige kurz erläutert.

1 Hasskommentar
Ein Kommentar gegen eine Person oder Gruppe mit beleidigendem oder diskriminierendem Inhalt.

2 Cybermobbing
Länger andauernde und regelmäßige Beleidigungen, Belästigungen und ähnliches über das Internet oder Handy, zeichnet sich wie klassisches Mobbing durch ein starkes Machtungleichgewicht aus

3 (Bildbasierte) Sexualisierte Gewalt:
Eine Handlung mit einem unerwünschten sexuellen Inhalt, wie beispielsweise Vergewaltigungen, das Versenden von unerwünschten Nacktbildern oder unerwünschte sexuelle Anspielungen.

4 Cybergrooming
Ein gezieltes Ansprechen von Minderjährigen über das Internet, mit dem Ziel, auf die Dauer eine sexuelle Beziehung aufzubauen, gegenüber Personen unter 13 ist der Versuch strafbar.

5 Dickpic
Ein in der Regel ungebetenes Bild des männlichen Geschlechtsteils.

6 Sexting
Das Versenden von erotischen Nachrichten, Bildern oder Videos über das Handy, eher veraltet

7 Nudes
Nacktbilder, der Begriff wird unter Jugendlichen heute eher verwendet, um Sexting zu beschreiben

8 Sextortion
Eine Erpressung, bei der damit gedroht wird, Nacktfotos oder Videos des Opfers zu veröffentlichen.

9 Darstellung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Bild- oder Videomaterial, das Minderjährige bei sexuellen Handlungen oder in expliziten Posen zeigt.

Autor:

Anja Kurz aus Engen

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