Bürgerehrung fürs Ehrenamt zum Klemenzenfest
"Rückzug ins Privatleben bringt die Gesellschaft nicht weiter"

Bürgermeister Mors (rechts) überreichte den Bürgerteller der Gemeinde erstmals an ein Ehepaar: Dagmar und Jürgen Garschke sind seit vielen Jahren enorm ehrenamtlich engagiert. | Foto: Oliver Fiedler
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  • Bürgermeister Mors (rechts) überreichte den Bürgerteller der Gemeinde erstmals an ein Ehepaar: Dagmar und Jürgen Garschke sind seit vielen Jahren enorm ehrenamtlich engagiert.
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Steißlingen. Der weltliche Höhepunkt des Steißlinger Klemenzenfestes ist alljährlich die Bürgerehrung für Einsatz im Ehrenamt am Montag zum Abschluss der Festtage für den Ortspatron. Bürgermeister Benjamin Mors konnte dabei vor einer beachtlichen Publikumskulisse in der Seeblickhalle eine Premiere vollziehen. Denn erstmals wurde der Bürgerteller an ein Ehepaar vergeben. Dagmar und Jürgen Garschke haben sich sehr intensiv im örtlichen Gemeindeleben eingesetzt. Jürgen Garschke war in jungen Jahren aus Watterdingen zugezogen und als er mit seiner Frau zusammenkam, die ihren künftigen Mann an der Bushaltestelle entdeckte, ging das mit den Ehrenämtern bald los: Jürgen Garschke war unter anderem von 1992 bis 1998 Vorsitzender des FC Steißlingen und ist seit der Gründung des Fördervereins "ewiger Kassierer". Zudem war er auch als Betreuer vieler Mannschaften  aktiv. Garschke war über 20 Jahre für die SPD im Gemeinderat und als gelernter Banker in Haushaltsfragen eine Institution. Inzwischen ist er im Helianthum aktiv, wie seine Frau übrigens auch, die dort bis vor kurzem Heimfürsprecherin war und mit ihren Kursen zur Sturzprophylaxe Zeichen setzte. Dagmar Garschke war für den TS Steißlingen als Übungsleiterin im Kinder- und Jugendbereich tätig, und auch beim TuS im Bereich Turnen noch aktiv gewesen, wo sie auch Ehrenmitglied ist und bereits 2014 mit der Landesehrennadel bedacht wurde.

Noch viele weitere Ehrungen verdienten Sportler konnten im Rahmen des Bürgerempfangs durchgeführt werden. Geehrt wurden in diesem Jahr die Europameisterinnen Eva und Lena Streit (Radsport), Tara Baumgarten (Karate), Ben Bichsel (Leichtathletik), Tom Bichsel (Leichtathletik), Felix Bäuerle (Friesen-5-Kampf), SGW-Gruppe „Minis“ des TuS Steißlingen, die weibliche Handball C-Jugend des TuS Steißlingen und Melanie Werder (Schießsport).

Gemeinden an Grenzen angekommen

Doch die Bürgerfeier hatte auch eine andere Seite. Bürgermeister Benjamin Mors verwies in seiner Rede zur Lage der Gemeinde darauf, dass sich nach Corona und dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine vieles verändert habe und immer weitere Aufgaben auf die Gemeinde und auf die Gesellschaft überhaupt zukämen. Dabei nehme  die Dringlichkeit vieler Probleme immer mehr zu, wobei auch die Uhr des Klimawandels gegen alle laufe. Es brauche nun einfache und unbürokratische Lösungen, richtete Mors deutliche Worte in Richtung der Politik, der angesichts von immer mehr Bürokratie die Gemeinden schlichtweg an ihre Grenzen gekommen sieht und der auch klar sagte, dass Subvention und Förderprogramme keine Lösung sein könnten, zumal kein Geld mehr da sei. Deshalb brauche man mehr denn je engagierte Menschen, die Probleme anpacken wollten: "Da kommt es auf uns alle an" so der Steißlinger Schultes.

"Gute Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit'" zitierte Mors den SPD-Politiker Kurt Schuhmacher und spielte damit auch auf die aktuelle Flüchtlingspolitik an. Seit 2018 habe man die Plätze zur Unterbringung von Geflüchteten versechsfacht, von 30 auf 175 erhöht, doch die Quote des Landes könne man damit immer noch nicht erfüllen. Jetzt gerade werde im Eiltempo eine Containeranlage für 60 Personen gebaut. Doch wenn sich nichts ändere in der Politik und in der Welt, dann müsse man wohl alle zweieinhalb Jahre eine solche Anlage erbauen, befürchtet er. Eine Integrationsarbeit sei da nicht zu leisten, gab Mors zu bedenken.
Aber man wolle mit Mut und gemeinsam in die Zukunft blicken. Und da geht der Blick zum Beispiel zum neuen Strom-Übergabepunkt der Gemeinde an das Netz der EnbW, der am Freitag, 22. September, feierlich ab 15 Uhr in der Gewerbezone "Vor Eichen" eingeweiht wird.

Ehrenamt als altes Privileg

Wolfgang Kramer, der ehemalige Kreisarchivar und Vorsitzende des Hegau Geschichtsvereins hob in seinem Festvortrag hervor, welches Privileg das Ehrenamt ist, auch für die Gesellschaft. Von den Griechen erfunden, die auch das Wort "Idiotes" erkoren für all jene, die eben nur "privat" sein wollten, ohne sich für die Gemeinschaft oder Gesellschaft zu engagierten, habe es lange gebracht, um zum Ehrenamt unserer Zeit zu kommen.

Kramer erinnerte an die Vorgaben der damalige Baumwoll-Spinn- und Weberei "Arlen" mit ihrem Zweigwerk in Volkertshausen, das die Industrialisierung mitbegründete: Die Arbeitszeit begann um 6 Uhr und dauerte bis abends um 20 Uhr, und den Arbeitsweg, meist zu Fuß, musste man dazu zählen. Es gab auch keine Ferien. Und lange waren die Bürger wenige, der Bauern, Knechte und Mägde viele, die schlichtweg keine Zeit für anderes hatten.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als zunächst die Feuerwehren, als "Luxus" der Ertüchtigung die Turn- und Fußballvereine, die Wandervögel oder die Sozialvereine entstanden, die auch die Arbeiter einbanden, habe sich das Ehrenamt entwickelt können. "Ohne dieses gemeinnützige Mittun des Einzelnen würde vieles nicht möglich sein, vieles nicht funktionieren." Und: "Es gehörte schon immer zu einem erfüllten Leben, sich für die anderen einzusetzen", so Kramer. Die beiden Geehrten dieses Tages waren ein gutes Beispiel dafür.
Der Seitenhieb auf die Gegenwart durfte für ihn allerdings nicht fehlen, wo eine junge Generation das Ehrenamt zur "Work" zählen würde und damit das Engagement nachlasse. "Der Rückzug ins Privatleben bringe aber die Gesellschaft nicht weiter", schloss Kramer seinen Festvortrag mit einer Mahnung und war damit wieder bei den "Idiotes".

Autor:

Oliver Fiedler aus Gottmadingen

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