Vortrag: Lernen 2030
Wendemanöver für den "Tanker" Schulsystem

Auf dem Bild von links: Redner Prof. Dr. Jörg Ramseger, Ricarda Kaiser (stellvertretende Landesvorsitzende der GEW), David Todt (Kreisvorsitzender GEW Schwarzwald-Baar), Hans-Georg Pannwitz (Kreisvorsitzender der GEW Konstanz), Dorothea Wehinger (Landtagsabgeordnete und Sprecherin für frühkindliche Bildung), Sebastian Goehl (Kreisvorsitzender GEW Schwarzwald-Baar) | Foto: Anja Kurz
4Bilder
  • Auf dem Bild von links: Redner Prof. Dr. Jörg Ramseger, Ricarda Kaiser (stellvertretende Landesvorsitzende der GEW), David Todt (Kreisvorsitzender GEW Schwarzwald-Baar), Hans-Georg Pannwitz (Kreisvorsitzender der GEW Konstanz), Dorothea Wehinger (Landtagsabgeordnete und Sprecherin für frühkindliche Bildung), Sebastian Goehl (Kreisvorsitzender GEW Schwarzwald-Baar)
  • Foto: Anja Kurz
  • hochgeladen von Anja Kurz

Engen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hatte zuletzt von sich Reden gemacht, nachdem sie als größte Bildungsgewerkschaft den Bildungsgipfel am 14. März kritisierte und einen „Neustart in der Bildung“ forderte. In diese Forderung reihte sich nun am Freitag, 17. März, eine Veranstaltung der GEW in der Stadthalle Engen ein.

Der Titel: Lernen 2030 - eine Perspektive, die weit weg erscheint, doch ist sie dadurch nur umso wichtiger. „Wir wollen den Finger in die Wunde legen, aber auch den Blick weiten“, fasste Hans-Georg Pannwitz, Kreisvorsitzender der GEW Konstanz zusammen. Er drückt seine Hoffnung aus, dass die Teilnehmer die Stadthalle mit einer Idee verlassen, wie Lernen 2030 aussehen könnte oder soll.
Den Rahmen des Abends gestalteten dabei der Kurzvortrag der stellvertretenden Landesvorsitzenden der GEW, Ricarda Kaiser, sowie als thematischer Mittelpunkt der Vortrag von Prof. Dr. Jörg Ramseger, Experte für Grundschulpädagogik.

Wenn Yoga nicht reicht

Ricarda Kaiser befasste sich hauptsächlich mit dem großen Begriff "Facharbeitermangel", der auch vor dem Bildungswesen keinen Halt macht. Dabei gelte es, eine wirkliche Verbesserung in der Bildungspolitik zu erreichen, anstatt lediglich Schlimmeres zu vermeiden. Denn laut einer Pressekonferenz des Kultusministeriums zum aktuellen Schuljahr seien von den benötigten 6.065 Stellen in Baden-Württemberg rund 37 Prozent nicht oder durch Personen ohne Lehramtsausbildung (POL) besetzt. Dass sich diese Zahlen in absehbarer Zeit nicht verbessern dürften, untermauere auch die "Studie zum Lehrkräftebedarf bis 2035" von Klaus Klemm aus dem vergangenen Jahr. Demnach könnten die nichtbesetzten Stellen durch die steigende Zahl an Schüler*Innen, weniger Lehramtsstudent*Innen und bildungspolitische Vorhaben, wie eine gerechte und verlässliche Versorgung mit Bildung, auf schlimmstenfalls über 26.000 steigen. Was also tun? „Es wurde zum Beispiel vorgeschlagen, dass die Lehrkräfte an ihrer Resilienz arbeiten. Ein Vorschlag war Yoga, also Gesundheitsschutz“, brachte Ricarda Kaiser die Absurdität mancher Ideen auf den Punkt. Auch das Erhöhen der Stunden von Teilzeitkräften stehe im Raum, aber: "Das machen sie ja nicht aus Vergnügen so." Es fehle an Verständnis dafür, welche Folgen die aktuell diskutierten Maßnahmen hätten, da nicht wenige davon den vorherrschenden Teufelskreis aus Personalmangel und Mehrbelastung nur weiter anheizen würden. Mit einem Auszug aus dem "15-Punkte-Programm gegen den Lehrermangel" der GEW gab Kaiser auch einen Einblick, welche Ansätze der Gewerkschaft zufolge dem Lehrkräftemangel nachhaltig entgegenwirken könnten. Dazu gehören multiprofessionelle Teams, unter denen Aufgaben besser verteilt und gelöst werden könnten. Dass diese Art der Aufgabenteilung aktuell an etwa 20 Schulen ausprobiert werde, sei ein guter Schritt, doch bewege sich noch immer zu wenig und zu langsam, um dem Problem rechtzeitig und nachhaltig beizukommen. Auch benötige es mehr Investionen in die Bildung, damit den Schulen mehr Ressourcen zur Verfügung stehen: "Letztendlich entscheidet das Finanzministerium über unsere Lehrer."

Lernen 2023 - Was kommt da auf uns zu?

Unter diesem Titel ergriff im Anschluss Prof. Dr. Jörg Ramseger als Hauptredner das Wort. Dabei beschränkte er seinen Blick auf die "vorhersehbaren Aufgaben", die er durch den per Gesetz beschlossenen Anspruch auf die "ganztägige Förderung aller Grundschüler" auf den Bildungssektor zukommen sieht. Dabei begann er bei der praktischen Umsetzung eben dieses Konzepts und machte schnell klar, wo die Schwierigkeiten liegen. Denn in dem Bundesgesetz gehe es bewusst um den Anspruch von Kindern auf ganztägige Förderung und nicht den der Eltern auf ganztägige Betreuung ihres Kindes. Auch werde durch die Eltern oft maximale Flexibilität gefordert, woraus sich ein offenes Ganztageskonzept ergebe, mit einer Kernzeit in der Schule am Vormittag und einer sozialpädagogischen Betreuung am Nachmittag, während der viele Kinder zu verschiedensten Zeiten aus dem Hort abgeholt würden. Dadurch sei es nicht nur notwendig, den Unterricht in geballter Form und ohne Erholungsphasen für Lehrer*Innen und Schüler*Innen am Morgen unterzubringen, auch sei es für die Fachkräfte durch die unstete Gruppe am Nachmittag nicht möglich, ein ergänzendes Bildungsangebot anzubieten.

Ein Unterrichts- und ein Betreuungskind

Die Kinder werden nach Ansicht des Experten für Grundschulpädagogik durch die Schul-Hort-Kombination förmlich aufgetrennt in ein "vormittägliches Unterrichtskind und ein nachmittägliches Betreuungskind", während die Schüler*Innen die beiden Einrichtungen laut Studien als ein Ganzes betrachten würden. Es fehle ein ausgewogener Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung, den die "echte Ganztagesschule" für alle Kinder bis 16 Uhr bieten könne. Und auch die Sozialpädagog*Innen arbeiten seiner Ansicht nach momentan unter ihren eigentlichen Kompetenzen, begreifen sich als schlichte "Hausaufgabenüberwacher und Basteltanten", statt der geschulten und anerkannten Bildungsarbeiter*Innen, die sie sind. Stattdessen gelte es, die Wahrnehmung der Kinder anzunehmen. Für die Sozialpädagog*Innen, Lehrkräfte und weiteren pädagogischen Kräfte bedeute das, sich in den zuvor erwähnten "multiprofessionellen Teams" zusammenzufinden, die Fähigkeiten aller Beteiligten anzuerkennen und sinnvoll zu kooperieren. "Hierfür sind wöchentliche Teamsitzungen unabdingbar", betont Ramseger, wobei für die Effizienz jeder selbst verantwortlich sei. Das koste zwar Zeit, biete jedoch auch einige Vorteile, wenn etwa am Mittag eine kurze Übergabe, ähnlich dem Schichtwechsel im Krankenhaus, eingeführt würde.

"Gute Ganztagsschulen haben einen großen Vorteil: Sie bieten in der Regel eine Fülle von Lernmöglichkeiten und Entwicklungsgelegenheiten, die kein Elternhaus allein bereitstellen kann."

Nur durch solche Veränderungen könne das Schulsystem, das der Redner als wenig wendigen "Tanker" bezeichnet, an das gemeinsame Ziel Aller - Lehrkräfte, sozialpädagogisches Personal, Eltern - einer guten und vielseitigen Bildung angepasst werden. Zwangsweise bedeute eine Kooperation, dass Lehrer*Innen wie andere Berufsgruppen den ganzen Tag am Arbeitsplatz sein müssten. Doch auf diese Weise könne man die unterschiedlichen Bildungsangebote sinnvoll miteinander verschränken und abwechseln, sodass sich ein "rhythmisierter Tagesplan" ergebe. Zu den Vorteilen zählt Prof. Dr. Ramseger dabei nicht nur, dass den Schüler*Innen zumeist das Lernen leichter falle und sie Kreativität und Forscherdrang entfalten könnten, auch die Motivation und Gesundheit des Personals würde sich deutlich verbessern.

Kinder zu "Herrschern über das Digitale" machen

"Die Bewältigung der Herausforderungen der Kultur der Digitalität" betrachtet Jörg Ramseger als weiteren wichtigen Baustein für das gemeinsame Ziel einer guten Bildung. Denn die Digitalisierung sei längst Teil unseres Alltags geworden, das Smartphone in unserer Hosentasche sei als "elektronisches Zweithirn" das wohl eindeutigste Zeichen dafür. Dabei teilt er die Ansicht, dass die Digitalisierung in der Zukunft eine ebenso bedeutsame Epoche sein werde, wie die Anfänge des Buchdrucks oder die Industrialisierung. Allerdings ergeben sich aus dieser unsichtbaren Welt der Netzwerke auch gewisse Anforderungen an das Bildungswesen. Denn es gelte, die Kinder nicht nur zu Nutzern, sondern "Herrschern" der Systeme zu machen: "Die Verwendung digitaler Medien zu selbstbestimmten Zwecken und die frühe Ausbildung von kritischer Medienkompetenz" könne zu einer kreativen, reflektierten Nutzung der Medien führen. Da die Kinder heute schon im jungen Alter in Kontakt mit diesen Medien kommen, spricht er sich für ein entsprechendes Bildungsangebot bereits in der Grundschule aus.

Zeitreise in die Vergangenheit

Eine weitere Baustelle - oft im wahrsten Sinne mit maroden Gebäuden - sieht Prof. Ramseger bei dem in Deutschland typischen Aufbau der meisten Schulhäuser als "Flurschule". Hierin sieht er das längst überholte Modell aus der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, die Analogie zur Arbeit in der Fabrik: Die Klassenzimmer reihen sich aneinander an einen langen Flur, die Plätze der Schüler sind ausgerichtet auf die Tafel. "Was wir heute brauchen, sind Raumgestalten, die das selbständige und handelnde Lernen und die Entdeckung der Welt durch die Schüler selbst begünstigen und herausfordern", betont er, eine Erkenntnis aus dem Jahr 1975. Doch während diese Gedanken zum Beispiel in skandinavischen Ländern bald zur Umsetzung kamen, begnüge man sich in Deutschland weiterhin mit dem Erhalt der Flurschule - vielleicht mit einem neuen Dach, neuen Fernstern oder gar einem WLAN-Router. „Aber es wird zugleich die alte Flurschule wiederhergestellt und damit die Pädagogik des 19. Jahrhunderts weitere 50 Jahre ins 21. Jahrhundert verlängert“, bringt es der Experte für Grundschulpädagogik auf den Punkt. Nur wenige Städte, etwa München und Berlin, setzen hierzulande konsequent neue Konzepte, wie die Großraum- oder Compartment- beziehungsweise Lernhausschule um. Die Großraumschule soll den Schüler*Innen eine komplett offene Lernlandschaft bieten, damit diese ihren eigenen Forschungen nachgehen könnten. Als Beispiel in der Region nennt er die Alemannenschule in Wutöschingen, mit der Empfehlung „wenigstens die eindrucksvollen Videos zu dieser Schule auf YouTube“ anzusehen. „Und dann gehen Sie zu ihrem Bürgermeister und sagen ihm, Sie wollen auch eine Schule des 21. Jahrhunderts haben.“

Hier geht es zu dem Schulporträt in Videoform:

Das Lernhaus als Kompromiss

Schema eines Compartment | Foto: Landeshauptstadt München, Referat für Bildung und Sport - 2015
  • Schema eines Compartment
  • Foto: Landeshauptstadt München, Referat für Bildung und Sport - 2015
  • hochgeladen von Anja Kurz

Einen guten und sinnvollen Zwischenweg aus Flur- und Großraumschule sieht Prof. Jörg Ramseger in der Compartment- oder Lernhausschule. Ähnlich der Großraumschule gibt es hier eine gemeinsame offene Lernfläche im Zentrum, die umgeben ist von vier oder sechs Klassenzimmern, einem Teamraum und anderen Räumen, etwa für Kunst oder andere Zwecke. Aus diesen "Compartments" setze sich dann, über- oder nebeneinander angeordnet, die Schule im Gesamten zusammen. Dass ein Umbau nach diesem Konzept auch in Altbauten möglich sei, beweise die Stadt Hamburg. Und auch in München würden aktuell 8 Milliarden Euro investiert, um alle neuen Schulen nach dem "Lernhaus"-Konzept zu bauen.

Das Beispiel eines "Compartments" in der Grundschule Bauhausplatz in München, die nach dem "Lernhaus"-Prinzip aufgebaut ist. | Foto: J. Ramseger - 2019
  • Das Beispiel eines "Compartments" in der Grundschule Bauhausplatz in München, die nach dem "Lernhaus"-Prinzip aufgebaut ist.
  • Foto: J. Ramseger - 2019
  • hochgeladen von Anja Kurz

"Hier in Baden-Württemberg versenkt man das Geld lieber in Stuttgart in der Erde", spitzt Jörg Ramseger die scheinbaren politischen Prioritäten zu. Nichtsdestotrotz gebe es im Landkreis ein Beispiel Ausnahme: Die Gebhardschule in Konstanz.

Das Fazit von Prof. Jörg Ramseger

"Erst die Kombination aus Rhythmisierung und Team-Kleingruppen-Modell in der kooperativen Teamschule verändert die Realität. Die gebundene Ganztagsschule bietet dafür den besten organisatorischen Rahmen. Das Lernhauskonzept bietet dafür den besten baulichen Rahmen."

Widerspruch aus Ideal und bildungspolitischer Realität

Spätestens in der Diskussionsrunde im Anschluss der Vorträge wurde deutlich, wie weit Realität und Ideal bei der Bildung auseinandergehen. "Ich weiß nicht, wie man in die Richtung kommen soll, die so notwendig ist“, äußert zum Beispiel ein*e Teilnehmer*In Bedenken. So würden die Entscheidungen der Landesregierung in Stuttgart laut eine*r Teilnehmer*In letztlich hauptsächlich von und für die größeren Städte getroffen, während ländliche Regionen und die Elternbeiräte in höheren Ebenen kaum gehört werden. Auch sei es schwer, den Eltern eine "echte Ganztagsschule" näherzubringen. Nichtsdestotrotz hoben ebenfalls einige Teilnehmer hervor, welche "kleinen Dinge" sie von dem Abend mitnehmen. Dem entgegen fordert Jörg Ramseger die Zuhörer auf, mutiger zu handeln: "Wir müssen weglassen, was uns hindert!"

Autor:

Anja Kurz aus Engen

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

2 folgen diesem Profil

Kommentare

Kommentare sind deaktiviert.
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.