Berlin/Landkreis Konstanz
Andreas Jung: „Wohlstand für alle“ bleibt für diese Menschen fern

Foto: CDU/CSU-Bundestagsfraktion – Michael Wittig

Andreas Jung ist seit 2005 Bundestagsabgeordneter für den Landkreis Konstanz. Mit der CDU ist er seit dieser Amtsperiode in der Opposition. Er ist seit diesem Jahr einer von fünf stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU und als energiepolitischer Sprecher in dieser Lage hat er derzeit so viel Fernsehpräsenz wie wohl noch nie. Als Kovorsitzender des Vorstandes der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung ist er an den Diskussionen und Ideen zur nicht ganz einfachen Zukunft Europas aktiv beteiligt. Das Wochenblatt sprach mit ihm über die derzeit schwierige Lage in Deutschland und in Europa und eröffnet damit eine Interviewserie mit den politischen Vertretern der Region in Bund und Land.

Wochenblatt: Sie sind der energie- und klimapolitische Sprecher der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Was kommt auf die Bürgerinnen und Bürger und auf die Städte und Gemeinden jetzt diesen Winter im schlimmsten Falle zu, was ist das Worst-Case-Szenario und was ist das wahrscheinlichste Szenario, mit dem Sie hier im Kreis rechnen?

Andreas Jung: Wir alle hoffen, dass wir gut durch diesen Winter kommen. Mit Gewissheit alles vorhersehen können wir nicht. Gut ist, dass die Gasspeicher fast voll sind. Hoffentlich kommen wie angestrebt ab dem Jahreswechsel Flüssiggas-Lieferungen über neue Terminals an Nord- und Ostsee. Unbedingt müssen in der Krise alle aktuellen Energieträger konsequent genutzt werden. Befristet leider auch noch einmal die, von denen wir uns verabschieden wollen: Kohle und Kernenergie. Und erst recht und beschleunigt alle erneuerbaren Energien und nachwachsenden Rohstoffe. Denn es muss alles getan werden, um einen Energienotstand abzuwenden, der unter ungünstigen Bedingungen noch immer droht. Es kommt dabei auch auf Faktoren an, die wir nicht beeinflussen können: Wird der Winter kalt oder mild?
Wie viele Kernkraftwerke laufen in Frankreich? Sind Wasserstände hoch genug für den Betrieb der Kraftwerke? Die Bundesnetzagentur schließt auch regionale temporäre Mangellagen nicht aus. Prognosen, wann sie wo auftreten könnten, sind ihr aber nicht möglich. Auf jeden Fall sind deshalb weiter alle aufgerufen, einen Beitrag zum Energiesparen zu leisten, die öffentliche Hand, die Wirtschaft und wir als Privatpersonen. Ohne das geht es nicht.

Wochenblatt: Was muss dringend jetzt geändert werden und warum?

Andreas Jung: Angesichts der explodierten Energiepreise müssen Normalverdiener und Betriebe in Existenznot kurzfristig bessere Unterstützung erhalten, um gut über den Winter zu kommen. Gaspreisbremse und Strompreisbremse sind notwendig. Sie sollen aber frühestens im März kommen und damit zu spät. Die im Dezember vorgesehene Einmalzahlung wirft viele Fragen auf.

Mehr Unterstützung für das untere Einkommensdrittel

Alle Menschen im unteren Einkommensdrittel müssen einen erhöhten Heizkostenzuschuss bekommen. Bislang erhalten ihn nur Wohngeldempfänger. Es gibt aber viele Menschen, die auch künftig kein Wohngeld bekommen, aber trotzdem ein kleines Gehalt haben. Sie arbeiten hart, drehen schon jetzt jeden Euro um und kommen mit den Erhöhungen nicht über die Runden: Lieber 1.000 Euro für sie als 300 Euro für alle. Der Staat kann nicht jede Auswirkung dieser Krise auffangen, aber diese Menschen müssen besser unterstützt werden. Genauso müssen Betriebe in Existenznot gezielt Zuschüsse bekommen, wenn die Kostenexplosion sie an die Wand drückt. Bislang haben nur wenige Industrieunternehmen Mittel erhalten. Das Programm darf nicht, wie von der Bundesregierung geplant, zum Jahresende eingestellt werden.

Hilfe für Mittelstand und Handwerk?

Es muss, wie von Robert Habeck eigentlich versprochen, auf Mittelstand und Handwerk ausgeweitet werden. Auch Bäckereien etwa müssen unterstützt werden. Sie sind gebeutelt durch hohe Energiekosten, können und wollen das über den Brotpreis aber nicht an die Kunden 1:1 weitergeben. Und schließlich darf es bei Umsetzung der Gas- und Strompreisbremse keine Schieflage zu Öl und Holz geben: Wer vom Staat bezuschusst auf Pellets umgestellt hat, jetzt aber plötzlich das Dreifache zahlt, darf nicht im Regen stehen. Mindestens muss auf alle Energie die Mehrwertsteuer in der Krise gesenkt werden.

Wochenblatt: Die Angst vor deutlichem Wohlstandsverlust im Westen geht um. Und gleichzeitig mehren sich die Stimmen, die sagen, die Zukunft liegt in Osteuropa. Wie schätzen Sie das ein?

Andreas Jung: Nichts ist selbstverständlich. Das mussten wir in den letzten Krisenjahren bitter erleben. Das gilt für Frieden und Freiheit, für unsere Gesundheit und auch für unseren Wohlstand. Er wird jetzt durch Knappheiten in der Ukrainekrise beeinträchtigt. Zudem bleibt die generelle Herausforderung, unsere soziale Marktwirtschaft mit dem Weg zur Klimaneutralität zu verbinden, um der Klimakrise zu begegnen. Das geht nur mit einem klaren Bekenntnis zu nachhaltigem Wirtschaften. Wir dürfen weder Raubbau an der Umwelt betreiben noch auf Kosten der nächsten Generation leben: keine Müllberge und keine Schuldenberge! Aus all dem ergeben sich Begrenzungen. Um Wohlstand trotzdem zu erhalten, müssen wir Ressourcen schonender einsetzen, den Kreislaufgedanken konsequent umsetzen – und mit den Partnern in Europa eng zusammenarbeiten.

Weimarer Dreieck hält Jung für wichtig

Dabei darf es kein Europa der Himmelsrichtungen geben, das in unterschiedliche Blöcke innerhalb der EU zerfällt. Nur gemeinsam als Europäer werden wir es schaffen. Besonders wichtig wären konkrete Initiativen des „Weimarer Dreiecks“. Dazu haben sich Deutschland, Frankreich und Polen zusammengeschlossen. Das muss stärker genutzt werden als bislang. Dann haben wir die Chance, breit zu integrieren, viele Partner mitzunehmen und gemeinsame europäische Fortschritte anzustoßen.

Wochenblatt: Ist es sinnvoll, dass Geflüchtete aus der Ukraine direkt Sozialleistungen erhalten, wie andere Geflüchtete, die bereits im Asylverfahren als schutzberechtigt sind? Und kann hier aus Ihrer Sicht etwas unternommen werden, dass auch die Menschen aus der Ukraine uns hier helfen können, dem Arbeitskräftemangel etwas entgegenzusetzen, ohne dass es dafür zu viele bürokratische Hürden wie die Einzelberechnung der erlaubten Zuzahlung zur Sozialhilfe gibt?

Andreas Jung: Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor diesem brutalen Krieg nach Deutschland fliehen, verdienen unsere volle Solidarität und Unterstützung. Weil in ihrem Fall erstmalig die sogenannte EU-Massenzustrom-Richtlinie angewandt wurde, hat Deutschland abweichend vom weiter geltenden Grundsatz entschieden, dass sie nicht zunächst unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, sondern ein solcher „Rechtskreiswechsel“ stattfindet. Ziel war dabei unter anderem gerade auch, dass ihnen eine schnelle Arbeitsaufnahme ermöglicht wird. Sie können sich direkt an die Jobcenter wenden und werden so aktiv bei der Stellensuche unterstützt.
Zahlreiche Vermittlungen in unserer Region sind auch zeitnah gelungen, etwa in der Gastronomie. In anderen Bereichen ist es oft noch schwierig. Das liegt häufig an der Sprachbarriere, sicher müssen aber auch noch bürokratische Hürden abgebaut werden. Einen unverzichtbaren Beitrag leisten ehrenamtliche Helfer genauso wie die Kommunen. Sie dürfen nicht alleingelassen werden. Der Bund muss jetzt sehr zeitnah die Finanzierung verbindlich klären.

Wochenblatt: Reden wir einmal über unsere Demokratie: Was läuft gerade schief? 47 Prozent der Deutschen sind mit ihrer Demokratie hier nicht mehr zufrieden, ermittelte Infratest Anfang Oktober. Was ist zu tun oder zu lassen?

Andreas Jung: Das ist alarmierend. Der Vertrauensverlust in die Demokratie fügt sich ein in erodierendes Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen überhaupt. Das erklärt manches, hilft aber nichts. Wir müssen den Ursachen auf den Grund gehen und um neues Vertrauen werben. Die Krisen der letzten Jahre haben zu Verunsicherung geführt und Protest beflügelt: Die Flüchtlingsfrage 2015, Klimakrise, Coronakrise, jetzt der Ukraine-Krieg. Teilweise wurde die Handlungsfähigkeit des Staates in Frage gestellt oder – wo gehandelt wurde – das konkrete Handeln kritisiert.

Nichts unter den Teppich kehren

Es gibt nur ein Weg, das Vertrauen zu stärken: Nichts unter den Teppich kehren, Probleme benennen und beweisen, dass der Staat vernünftige Lösungen finden und diese gut umsetzen kann. Essenziell dabei: Zu den eigenen Überzeugungen stehen und für sie eintreten. Bei allen Fehlern bin ich glücklich, in einer liberalen Demokratie zu leben, statt in einer Autokratie, die Menschen reguliert und unterdrückt. Und ich bin überzeugt, dass unsere soziale und ökologische Marktwirtschaft allen planwirtschaftlichen Ansätzen überlegen ist. Aber das müssen wir auch immer wieder belegen – auch durch noch bessere Partnerschaft mit den Weltregionen, die unsere Werte teilen.

Wochenblatt: Herbst und Winter werden für viele Menschen finanziell schwierig. 2023 erwarten die Banken und die Schuldnerberatungen eine massive Häufung privater Überschuldungen. Die Schuldnerberatungen sind schon jetzt überfüllt. Bei den Psychologen gibt es Wartezeiten von mehreren Monaten, die Kirche hat für viele ihre Funktion verloren. Wohin sollen sich die Menschen wenden? Vertrauen sie auf ehrenamtliches Engagement vor Ort?

Andreas Jung: Es müssen die politischen Entscheidungen getroffen werden, um die Menschen zu stützen, die durch die Preisexplosion in Not geraten. Deshalb muss die schon genannte Unterstützung von allen im unteren Einkommensdrittel kommen. Darum sind jetzt etwa auch temporäre Kündigungssperren bei der Energieversorgung geboten. Niemand soll wegen der zugespitzten Situation seine Wohnung verlieren. Die Politik muss verhindern, dass Menschen in Armut abrutschen. Schuldnerberatung, Psychologen, Kirchen oder Ehrenamt haben eine elementare Bedeutung, können aber politische Entscheidungen nicht ersetzen. Aber klar ist: „Der Staat“ alleine kann gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht verordnen, wir alle sind der Staat.

Ludwig Erhards Vision …

Lange Schlangen vor den Tafelläden etwa zeigen zweierlei: Es gibt viel bewundernswertes ehrenamtliches Engagement, hier und in vielen anderen Bereichen. Aber gleichzeitig ist das ein Alarmsignal für unsere Gesellschaft. Preissprünge und Inflation bringen viel ans Licht, was lange Zeit noch eher verborgen war. Die Verheißung Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ bleibt für diese Menschen fern. Das kann uns nicht ruhen lassen. Neben materieller Perspektive brauchen wir gerade angesichts des Wegbruchs vermeintlicher Gewissheiten durch gleichzeitige Krisen Orientierung in der Gesellschaft. Dabei haben die Kirchen weiterhin eine zentrale Rolle. Auch sie sind von Vertrauensverlust betroffen – aus Gründen, die sie zu guten Teilen selbst zu vertreten haben. Aber die Werte, für die sie stehen, bleiben richtig und sie werden gebraucht. Ohne Werte fällt unsere Gesellschaft auseinander.

Wochenblatt: Sie sagen, ohne Werte fällt die Gesellschaft auseinander. Wir haben ja Werte, in meiner Wahrnehmung geht es eher um die Frage, welche Werte wir gemeinsam haben müssten, und da scheiden sich die Geister. Was wären die Werte, die jetzt gerade zu wenig sind, a) in der Regierung, b) in der Bevölkerung, c) in der CDU?

Andreas Jung: Das Mindestmaß an Wertekonsens steht im Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Daraus leitet sich alles ab. Für alle, die hier leben, und für alles staatliche Handeln ist das verbindlich. Dazu muss etwas kommen, was der frühere Richter am Bundesverfassungsgericht, Ernst-Wolfgang Böckenförde, einmal so beschrieben hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Ich übersetze das so: Wir leben davon, dass nicht jeder nur an sich denkt, sondern auch an die anderen, an die Gemeinschaft. Christen leiten das aus dem Gebot der Nächstenliebe ab. Dazu kommt man aber auch aufgrund anderer religiöser oder ethischer Überzeugungen. Pluralität ist Lebenselixier einer freiheitlichen Demokratie. Aber Gesellschaft muss mehr sein als ein Nebeneinander unterschiedlicher Gruppen. Das gilt immer – und gerade in der Krise brauchen wir Zusammenhalt.

Wochenblatt: Und welche Werte sind in der öffentlichen Diskussion zu viel vertreten, Ihrer ganz persönlichen Meinung nach?

Andreas Jung: Da will ich mich nicht zum Schiedsrichter machen. Was ich aber wahrnehme, ist zweierlei: Zum einen gibt es viel Solidarität: praktische Hilfe für Flüchtlinge vor Ort, Hilfslieferungen in die Ukraine, Energiesparen, damit es für alle reicht. Zum anderen haben aber viele Menschen derzeit auch Sorgen oder sogar Angst: Wie geht Putins Krieg gegen die Ukraine weiter? Was bedeutet das für uns? Werden Kosten weiter explodieren und kann ich das schultern? Können wir unseren Lebensstandard halten?

Sorgen ernst nehmen

Das darf man nicht abtun und etliche Sorgen sind ja berechtigt. Wir müssen sie ernst nehmen, die Dinge so gut das geht erklären und bestmögliche Lösungen finden. Denn wir dürfen nicht zulassen, dass die Radikalen ihr Geschäft mit der Angst machen. Das versuchen sie derzeit vehement, sie gießen Öl ins Feuer. Nicht an Lösungen sind sie interessiert, sondern an Zuspitzung. Dem müssen wir uns als Demokraten gemeinsam entgegenstellen.

Wochenblatt: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Autor:

Anatol Hennig aus Singen

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