Erste Flüchtende kommen in der Region an
Eine Woche unterwegs mit dem Grauen im Rücken

Fast eine Woche lang auf der Flucht von Kiew nach Rielasingen-Worblingen. Die Vietnamesischstämmige Familie Nguyen mit Vater Van Dai, demn Söhnen Tijen Dyk und Tiejen Dat wie Mutter Thi Nguiet Ngo | Foto: sw-bild: of
  • Fast eine Woche lang auf der Flucht von Kiew nach Rielasingen-Worblingen. Die Vietnamesischstämmige Familie Nguyen mit Vater Van Dai, demn Söhnen Tijen Dyk und Tiejen Dat wie Mutter Thi Nguiet Ngo
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Rielasingen-Worblingen. Am Samstag kam die Familie Nguyen erschöpft bei ihren Verwandten in Rielasingen-Worblingen an. Ihre Flucht hatte am Montagmorgen am Bahnhof in Kiew begonnen. Die gebürtigen Vietnamesen Van Dai und Thi Nguyet Ngo hatten 24 Jahre in Kiew gelebt und sich mit einem Kleidergeschäft eine Existenz aufgebaut, mit einer Wohnung in einem Hochhaus. Die beiden Söhne Tiien Dyk (17) und Tiien Dat (14) sind in der Urkaine geboren und es war ihre Heimat. Und die ist erst mal verloren.

Schon in der ersten Kriegsnacht mussten sie sich im Bunker unter dem Hochhaus verkriechen, in dem sie wohnen, erzählen sie beim Zusammentreffen mit dem Wochenblatt. »Wir hatten nach dem ersten Alarm noch gemeint, wir könnten gleich wieder hoch«, sagt Vater Van Dai, doch man konnte nur mal kurz noch die Zähne putzen oder Duschen, dann heulten die Sirenen wieder und die Nacht musste im nackten Keller verbracht werden, im Sitzen oder auf dem Boden liegend versuchend zu schlafen. Nicht nur die Verwandten aus Rielasingen riefen an und schickten Nachrichten, dass die schnellstens das Land verlassen wollten, sagt Linh Chu von der Gastgeberfamilie, die inzwischen in Zürich lebt und eigens wegen der Ausnahmesituation zurückgekommen ist. »Wir haben gemerkt, dass immer weniger in den Bunker kamen, und am dritten Tag waren es von über 100 nur noch 14 Personen«, erzählt Vater Van Dai. »Da wussten wir, dass wir hier nicht bleiben konnten.«

Nur für jeden ein kleiner Rucksack, das war alles was mitgenommen werden konnte. Stundenlanges Warten im Bahnhof auf einen Zug, der wenigstens bis Lviv (Lemberg) fahren würde. Dann fuhr der überfüllte Zug nicht los, hielt nach ein paar Minuten wieder an, während draussen der Gefechtslärm und die Einschläge näher kamen. Wieder anfahren, wieder stoppen. Rund 15 Stunden dauerte die Bahnfahrt, dann zum Teil zu Fuß, zum Teil mit improviserten Bussen an die Grenze nach Polen - 70 Klilometer Stecke. »Trotz aller Todesangst in diesen Augenblicken gab es immer Menschen, die uns zu Essen gaben, uns weitergeholfen haben oder an der Polnischen Grenze ein Bett für die Nacht gestellt haben«, zeigt sich Van Dai dankbar. Das sei eine ganz besondere Erfahrung gewesen. Und auch die »Gastgeberin« Thi Thuong bekam plötzlich ganz viele Spenden aus ihrem Umfeld, als man dort von den neuen Gästen erfuhr. »Der Keller hier war schnell voll«, sagt sie.

Mit einem Rumpelbus ging es über Warschau bis nach Berlin zu den einen Verwandten, dann weiter mit dem Zug hier an den Bodensee. »Vor allem unsere Söhne können das noch gar nicht verstehen, was mit ihnen hier passiert ist«, erzählt der Vater, denn noch sind die anderen Lippen verschlossen. Sie wollen wieder nach Hause. Das will freilich die ganze Familie so schnell wie möglich. Aber: »Wir haben ja alles zurückgelassen. Was wird es dann noch geben«, zeigen sie ihre Sorgen.

»Wir sind hier der Gemeinde wirklich dankbar«, lässt Van Dai übersetzen, »es geht hier alles sehr schnell, wie man sich hier um uns kümmert. Allerdings ist es im Haus von Tai Chu und Thi Thuong Nguyen und Sohn Jonathan Chu, der gerade fürs Abitur büffeln muss, für acht Personen schon Eng auf die Dauer. Und gerade wäre ist es wichtig auf andere Gedanken zu kommen, sagt die Familie.

Alle Gemeinden im Landkreis suchen derzeit temporär Wohnraum für ukrainische Familen, die meist Mutter mit Kindern sind, weil die Männer nicht ausreisen dürfen. Die Welle hier im Landkreis steht auch erst am Anfang.

Autor:

Oliver Fiedler aus Gottmadingen

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