In Singen werden neue Stolpersteine für Opfer der »Aktion T4« verlegt
Die Schicksale nicht vergessen

Grauer Bus | Foto: Die Busse der »Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft« sahen von außen aus wie ganz normale Busse der Reichspost. Sie waren rot lackiert. Und wurden genutzt um Menschen mit Behinderung oder psychisch Kranke zwischen unterschiedlichen Heilanstalten un
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  • Foto: Die Busse der »Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft« sahen von außen aus wie ganz normale Busse der Reichspost. Sie waren rot lackiert. Und wurden genutzt um Menschen mit Behinderung oder psychisch Kranke zwischen unterschiedlichen Heilanstalten un
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Singen. »Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Kind an einer toxischen Diphterie verstorben ist. Die Leiche wurde eingeäschert und kann überstellt werden.« So oder so ähnlich könnte wohl die Mitteilung gelautet haben, die die Eltern des 9-jährigen Walter Hirt aus Singen im Herbst 1940 erhielten, nachdem sie einige Zeit zuvor informiert worden waren, dass ihr kleiner Walter vorübergehend in eine andere Heilanstalt verlegt wurde und sie von Besuchen und der Übersendung von Paketen deshalb absehen sollen. 1938 war Walter in die St.-Josefsanstalt Herten eingewiesen worden. Nach mehreren Verlegungen in andere Heime war seine letzte Stadion Grafeneck, wo er jedoch in Wahrheit nicht an einer Erkrankung starb, sondern im Rahmen der »Aktion T4« ermordet, wahrscheinlich mit Kohlenmonoxid vergast wurde, berichtet Axel Huber, der im Auftrag der Stadt Singen Biografien von Singener Bürgerinnen und Bürgern recherchiert hat, die dieser Aktion der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind.

Behinderte und psychisch kranke wurden systematisch ermordet

Bei der »Aktion T4« ging es darum, Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen systematisch zu ermorden. »Wie aus den Unterlagen hervorgeht, hatte Walter Hirt keine spezielle Behinderung, er war in seiner Entwicklung einfach langsamer als andere Kinder, so hatte er beispielsweise Schwierigkeiten mit dem Sprechen«, berichtet Huber. Das reichte allerdings schon, um wie viele andere Menschen, ins Visier der NS-Obrigkeit zu gelangen. Allein in Singen waren es insgesamt fast 200 Menschen. Für sechs von ihnen werden am Mittwoch, 9. Juni, neue Stolpersteine verlegt. Diese sollen dann in Zukunft an das Schicksal dieser Menschen erinnern.
Eine andere Singener Bürgerin, die an diesem Tag einen Stolperstein bekommen wird, ist Anna Schäuble. Geboren 1913, wurde sie im Alter von 20 Jahren mit einer psychischen Erkrankung in die Reichenau eingewiesen. Obwohl sich ihr Zustand zunächst zu verbessern schien, entschieden die Behörden 1934, dass Schäuble zwangssterilisiert wird. Ermöglicht wurde dies durch das »Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses,« nur wenige Monate nach ihrer Machtergreifung, erlassen hatten. Am 13. November 1934, im Alter von 21 Jahren, verstarb Anna Schäuble an den Folgen der Zwangsoperation im Singener Krankenhaus. »Der Fall machte damals sogar noch Schlagzeilen bis nach Berlin, da es zu dieser Zeit noch einen Rest freier Presse gab. Trotzdem ging das Morden weiter. Auch Anna Schäubles ältere Schwester Emma fiel dieser Aktion zum Opfer. Sie wurde 1941 in Hadamar ermordet, weil sie nach einer unglücklichen Liebe in eine schwere Depression verfallen war und zwei Selbstmordversuche begangen hatte.

Wenn die »grauen Busse« kamen

Wie perfide die Nazis bei der »Aktion T4« vorgingen, zeigen nicht nur Bezeichnungen aus der damaligen Zeit wie etwa »Aktion Gnadentod«, sondern auch die Biographien der Betroffenen. Oftmals wurden sie von einer Anstalt in die nächste verlegt, bis sie irgendwann in einer der Tötungsanstalten wie Grafeneck bei Gomadingen im Landkreis Reutlingen, Hadamar im mittelhessischen Landkreis Limburg-Weilburg oder Schloss Hartheim in der Gemeinde Alkoven bei Linz landeten, wo sie in Gruppen von 30 bis 60 Personen in Gaskammern mit Kohlenmonoxyd vergast wurden. Im Anschluss wurden die Leichen verbrannt und den Angehörigen wurde eine natürliche Todesursache mitgeteilt. Allerdings in vielen Fällen erst nachdem diese noch monatelang weiter für einen Heimplatz bezahlt hatten. Zum Transport der Menschen wurden die berüchtigten »Grauen Busse« eingesetzt. Fahrzeuge der Reichspost, deren Fenster mit Vorhängen verschlossen oder mit Farbe übermalt waren. Am Beispiel der Aktion T4 wird deutlich, wie viele Unterschiedliche Opfergruppen es in der Zeit des Nationalsozialismus gab, macht der Landtagsabgeordnete Hans-Peter Storz deutlich. Zusammen mit dem 2019 verstorbenen Heinz Kapp hat er die Singener Stolperstein-Initiative gegründet, 2010 wurden die ersten neun Steine vom Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt. Bei den Stolpersteinen handelt es sich um das größte dezentrale Mahnmal für die Opfer der Nationalsozialisten weltweit. Sie erinnern immer am jeweils letzten selbstgewählten Wohnort der Nazi-Opfer an die betroffenen Menschen. »Die Liste der Singener Opfer wird immer länger«, sagt Storz mit Blick auf die weiter voranschreitende Erforschung dieser Thematik. Diese stellt sich in vielen Fällen allerdings sehr schwierig dar.

Oftmals schwierige Aktenlage

»Oftmals gibt nur der Ort des Todes, der in den Akten vermerkt, ist erst den Hinweis darauf, dass eine Person im Rahmen der »Aktion T4« ihr Leben verloren hat«, erklärt Axel Huber und auch erst wenn ein begründeter Verdacht besteht, kann Akteneinsicht beantragt werden. Selbst wenn die Akten eingesehen werden können, ist die Rekonstruktion der Geschichten oftmals schwierig, berichtet Huber. Im Fall des 1889 geborenen Josef Gesell umfassten die Akten nur wenige Einträge. Er wurde 1921 in die Liebenau eingewiesen. »Wir wissen darüberhinaus nur, dass er als Soldat am ersten Weltkrieg teilgenommen hat. Vermutlich war er ein sogenannter Kriegszitterer, also an einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund der schrecklichen Kriegserlebnisse erkrankt«, erklärt Huber. Im Detail wird Axel Huber die von ihm erforschten Biographien der sechs Singenerinnen und Singener Walter Hirt, Julie Kempf, Karl Paul Dusel, Josef Gesell sowie Anna und Emma Schäuble am Abend der Stolpersteinverlegung im Rahmen eines Online-Vortrags vorstellen. Anmeldungen zum Vortrag sind per Mail an axel.huber@singen.de möglich.

Die Aktion T4

Die Bezeichnung »Aktion T4« stammt aus der Nachkriegszeit. T4 ist die Abkürzung für die Adresse der damaligen Zentraldienststelle T4 in Berlin: Tiergartenstraße 4. Sie ist Teil der Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus, der insgesamt rund 200.000 Menschen zum Opfer fielen. Zum Transport der Menschen zwischen den verschiedenen Anstalten wurden die grauen Busse der »Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft« eingesetzt. Dabei handelte es sich um ehemalige Fahrzeuge der Reichspost, die anfangs noch wie alle Post-Busse rot lackiert und mit regulären Post-Nummernschildern versehen waren. Erst in der Kriegszeit wurden die Busse grau lackiert, wie auch alle anderen Busse der Reichspost. Die Fahrzeuge sollten nicht auffallen. Trotzdem war die Aktion durchaus bekannt und es gab auch Protest dagegen, etwa von Seiten der Kirchen.

Die Stolpersteine

Mit seinen Stolpersteinen erinnert der Kölner Künstler Günter Demnig an die Opfer des Nationalsozialismus. Wer die Inschrift der messingglänzenden Steine am Boden lesen möchte macht automatisch eine Verneigung vor dem Menschen, so eine Interpretation des Künstlers. In Singen wurden bereits rund 50 Stolpersteine verlegt. Europaweit sind es über 75.000. Die Singener Initiative wurde 2009 von der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen gegründet und ist derzeit auf der Suche nach neuen Mitgliedern.
Wie das Wochenblatt am 3. März 2021 in Ausgabe 9 ankündigte, will der Verlag die Einnahmen aus der Wahlwerbung der AfD für die Landtagswahl an drei Projekte spenden. Das erste waren die »Internationalen Wochen gegen Rassismus«, das zweite Projekt, das das Wochenblatt mit den AfD-Einnahmen unterstützt, ist diese Stolpersteinverlegung.

- Dominique Hahn

Autor:

Redaktion aus Singen

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