Arbeiterkultur war vor 35 Jahren beim Burgfest zu Gast
Aufbruchstimmung rund um den Hohentwiel

Mit dem Gastspiel der Recklinghausener Ruhrfestspiele beim Burgfest auf dem Hohentwiel wurde 1980 ein neues Kulturkapitel für Singen aufgeschlagen. Arbeiterkultur prägte fortan den 1. Mai jährlich an der Scheffelhalle. Motor bei der Neuorientierung war IG-Metall-Chef Heinz Rheinberger, der zugleich neue Partnerschaften knüpfte. Alfred G. Frei wurde Kulturamtsleiter, die Arbeitergeschichte rückte 1987 in den Mittelpunkt des Stadtjubiläums. Zugleich begann der Demonstrationszug am 1.Mai mit einem ökumenischen Gottesdienst. Die „Strukturanalyse für den Landkreis Konstanz“ brachte Ende der 80er Jahre Mittelstand, Gewerkschaften und Kirchen an einen Tisch. Ein vielfältiger Dialog um die Zukunft der Stadt und der Region wurde in Gang gesetzt. Es wurden sicherlich keine Wunder vollbracht. Über ihre Nachhaltigkeit kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber es wurde um Inhalte wenigstens gestritten! Und über Zukunft wurde laut nachgedacht. Unterschiedliche Denk-und Sprachkulturen prallten aufeinander. Unvergessen ist eine Auseinandersetzung, die Helmut Graf gleichsam vom Zaun brach. Eine feministisch angehauchte Wissenschaftlerin hatte die Pluralform immer mit dem „-Innen“ ergänzt. Graf tobte bei der Sitzung im Singener Ratssaal: Laut Duden sei der Plural im Deutschen immer noch anders korrekt!

Die jährlichen Kulturschwerpunkte sorgten für Spannung und teilweise auch Streit. Dann schlief vieles ein. 2015 könnte mit dem Hohentwiel-Jubiläum zu einer Wiederbelebung führen. Mit der Existenz der Singener Stadthalle hatte sich mit der Zufriedenheit darüber vielfach wieder kulturelle Beliebigkeit eingestellt. Zu oft wurde das „eingekauft“, was gerade „am Markt“ war. Jetzt rückt wieder die eigene geschichtliche Identität in den Blickpunkt.

Die Ruhrfestspiele brachten 1980 auf dem Hohentwiel einen handfesten Skandal. Plötzlich standen Blasmusik, Ritterle und Hellebardenträger nicht mehr im Blickpunkt. Statt leichter bürgerlicher Kost gab es teilweise eine Kultur der Kritik aus dem Arbeiterleben in „Pott“. Der ganze Berg wurde bespielt, die Aufführung des „Hauptskandals“ erlebte ich selbst auf der Unteren Festung: Nonnen seien in ihrer Ehre beschmutzt worden, der Lächerlichkeit preisgegeben. Ich fand das gezeigte Stück auch nicht als Beispiel von Hochkultur: Einige Akteure waren schichtweg besoffen! In Singen hing der kulturpolitische Haussegen erst einmal schief. Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle hielt weiter Kurs, Heinz Rheinberger nutzte seine Gewerkschaftskontakte. Ergebnis: Im Rahmen der Einweihung der umgebauten „Kunsthalle“ waren wieder die Ruhrfestspiele in Singen zu Gast. Gespielt wurde „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ von Bert Brecht. Zentnerweise Getreide bildete das schlichte Bühnenbild. Und schon wieder schäumte es in der Gerüchteküche!

Die 80er Jahre waren in Singen von einem Kulturkampf geprägt: Der Bau der Stadthalle von Claude Paillard endete im Bürgerentscheid. Dafür zog das alternative Kulturzentrum „Gems“ nach Singen um, die „Färbe“ bekam ihren städtischen Finanzrahmen. Das Kunstmuseum wurde im „Hanse-Haus“ eröffnet, aber die erste Leiterin Andrea Hofmann verabschiedete sich bald. Das Umspannwerk war zum Kunsttempel geworden. Tom Leonhard setzte dort neue Akzente. Möhrle kaufte gleichzeitig für die Stadt Tafelbilder von Marcello Mondazzi. Mit dem Konstanzer Historiker Gerd Zang hielt ein neues Team Einzug in die Stadtgeschichte. Als Ende des Jahrzehnts war Musik zum Kulturschwerpunkt erkoren. Der spanische Komponist Manual Hidalgo schrieb ein Auftragswerk über Singen, das im Vorfeld der Aufführung in der Scheffelhalle skandalesque Züge annahm. Aufführen sollten neben dem Landesjugend-Symphonie Orchester von Professor Schreier, dem städtischen Blasorchester auch der Madrigalchor von Alusingen das opulente Werk „Vomittorio“. Das bezeichnete in der Antike den Ort, wo die Römer ihre Notdurft verrichteten. Und das sollte Singen gleichgesetzt werden? Chormitglieder verweigerten sich bei den Proben. Gerüchte schossen ins Kraut. Hidalgo hatte, um den Rhythmus dieser Stadt zu ergründen, Blechbüchsen an die Autoräder gebunden. Fotos davon gehörten zum Gesamtkunstwerk! Kontrovers wurde das Projekt im städtischen Jahrbuch kommentiert. Auch das gehörte zum Stil von Dr. Frei.

Zurück zum 1. Mai! Der wurde Jahre bescheiden mit einer Rede auf der Thingplatz unterhalb des Hohentwiels begangen: stilvoll aber klein. Gewerkschaftler und Offizielle trafen sich, jahrelang mein Pflichtspaziergang für das aktuelle Maifoto. Mit dem Umzug an (oder auch witterungsbedingt in) die Scheffelhalle wurde der 1. Mai zum Kulturtag mit Ausklangshock für Wanderer. Was auf dem Hohentwiel 1980 möglich geworden war, gab es jetzt auch „unten“: Kulinarisches der in Singen lebenden Ausländergruppen. Miteinander schafft Integration. Das Bier zapfte die NGG. Infostände wurden zu kleinen Diskussionsinseln, auch die CDA zeigte Solidarität der Werktätigen. Internationale Arbeiterlieder sang Carlo Trinkale, Volkstanzgruppen sorgten für jugendliche Akzente, Rock durfte zum Ausklang nicht fehlen. Unvergessen sind die „RuckZuckler“, die junge Theatergruppe der IG-Metall, die Heinz Rheinberger forciert hatte. Antonio da Silva wurde vom blutjungen Lehrling zum Schauspielschüler in der „Färbe“ und späteren Bühnenstar. Inmitten eines riesigen Bühnenbilds in der Scheffelhalle hieß es zu einem Stück von Dario Fo: „Jetzt wird in die Hände gespuckt, wir schaffen das Brutosozialprodukt!“ Heute findet das Fest auf dem Rathausplatz statt. Die „RuckZuckler“ sind Vergangenheit.

Ja, das waren Jahre voller Aufbruchsstimmung – ganz im Geiste der Arbeiterkultur. Dazu gehörte eine 1. Mai-Zeitung, die in den Betrieben verteilt wurde. Wichtig waren natürlich die jeweiligen Mai-Redner, deren Rang und Name nicht immer einen grandiosen Vortrag garantierte. So blieb es manchmal bei einer klassischen Gewerkschaftsrede, die von der örtlichen Begrüßung an Brisanz übertroffen wurde. Themen für die Maitransparente gab es über die Jahre hinweg genug. Und immer wieder war es die Angst vor Betriebsschließungen und Arbeitslosigkeit, die den 1. Mai zu mehr als zu einem Volkswandertag machten. Die Gewerkschaftler machten ihren gesellschaftspolitischen Anspruch geltend – mit klaren Positionen und aufrechtem Gang. 2015 auf ein Neues.

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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