Hier hat Gerd Zahners Aufarbeitung keine Konjunktur
Diese Uni hat keine Vergangenheit!

Vor 70 Jahren wurde Auschwitz befreit! Aber wie gehen wir heute mit dieser Vergangenheit um? Der Singener Autor Gerd Zahner erlebt ein Wechselbad der Gefühle. Bei Günter Jauch erinnert man sich plötzlich an Boger in Singen, aber an der Uni Konstanz soll es keine „causa Jauss“ geben! „Alles abgeschlossen“, heißt es zur einstigen Verurteilung von Hans Robert Jauss als Kriegsverbrecher und SS-Angehörigem. Die 3. Spruchkammer in Recklinghausen hatte Jauss zu einer Geldstrafe verurteilt, die gleichsam durch die Zeit der Kriegsgefangenschaft abgegolten war. „Eine Vergangenheit, die nicht vergehen will“ lautet jetzt der Titel der Anklage. Plötzlich melden sich die alten Ordinarien zu Wort und packen ihren Weggefährten posthum in Watte. Vorwürfe werden relativiert, die Korrektheit eines Wissenschaftsbetriebs wird eingefordert, der es in fast 20 Jahren versäumt hat, Licht in das Dunkel der SS-Vergangenheit eines ihrer Gründungsprofessoren zu bringen. Sicher ist: Diese Uni hat keine Vergangenheit! Und die lässt sich hier auch keiner mehr anhängen!

Wenige Stunden vor der Uraufführung von Gerd Zahners Stück „Die Liste der Unerwünschten“ am 19. November 2014 im Audimax der Universität Konstanz veröffentlichte die Universität Konstanz erste Ergebnisse eines Gutachten über den Werdegang des Konstanzer Romanistik-Professors Hans Robert Jauss in den Jahren 1939 bis 1945, das Rektor Professor Ulrich Rüdiger beim auf solche Themen spezialisierten Historiker Dr. Jens Westenmeier in Auftrag gegeben hatte. Das Ergebnis: Zahners Recherchen wurden voll inhaltlich bestätigt. Das war der Eindruck beim Lesen der Presseerklärung der Universität. Nur eine Presseerklärung? Keine hochwissenschaftliche Abhandlung über Wahrheit? Kurzum: Jauss war ein SS-Mann aus Überzeugung gewesen. Die Meldung schlug vor der Premiere natürlich wie eine Bombe ein. Kein Gesundbeten, keine Relativierung unter Freunden.

So wie das Stück: Unter der Regie von Didi Danquart würde Luc Feit die neue, anders akzentuierte Fassung der einst 1967 von Jaus gehaltenen Antrittsvorlesung gleichsam am „Tatort“ in Szene setzen. Bald lagen die „Listen der Unerwünschten“ rund ums Podium verstreut auf dem Boden des Audimax. Bittere Wahrheiten? Rektor Professor Ulrich Rüdiger hatte sich stets positiv zur Aufarbeitung der Vergangenheit dieser Uni geäußert und den neuen Dialog unterstützt. Das wird ihm jetzt zur Last gelegt. Man hätte vor der Zulassung der Aufführung des Stücks erst den Abschluss des Gutachtens abwarten müssen. Das jetzige Vorgehen könnte den Eindruck in der Öffentlichkeit erwecken, als spiegele sich hier in der kritischen Haltung die ganz überwiegende Meinung der Mitglieder der Universität Konstanz, monieren die Altrektoren Horst Sund und Bernd Rüthers zusammen mit Professor Jürgen Mittelstraß. Es bestehe die Gefahr, dass die Konstanzer Universität ein neues, falsches Gesicht bekomme!

Neu – alt? Richtig – falsch? Da wird fleißig sortiert. Und die alten Seilschaften funktionieren wieder.

Im Hintergrund geht es aber letztlich um die Frage, wieviel bildungspolitische Reformen mit der Gründung der Universität Konstanz wirklich verbunden waren. Das Netz von Jauss führt auch nach Heidelberg. Dort hatte er sich 1948 unter Angabe seiner SS-Zugehörigkeit immatrikuliert. Doktorvater von Jauss war dort der Konstanzer Gründungsrektor Gerhard Hess gewesen. Die Verstrickungen von Jauss in das Nazi-Regime hatte Earl Jeffrey Richards bereits 1995 aufgedeckt. Gerd Zahner war es jetzt aber vorbehalten, die Probleme der Vergangenheitsbewältigung einer größeren Öffentlichkeit außerhalb einer akademischen Diskussion kund zu tun. Geradezu abenteuerlich ist die Einschätzung, durch die Recklinghausener Verurteilung sei der „Fall“ Jauss komplett abgeschlossen.

Jurist und Autor Gerd Zahner steht umgekehrt dazu, „Schuld“ nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das war ihm mit seinem Stück „Wilhelm Boger“ am Heiligen Abend 2011 in der St. Michaels-Kapelle gegenüber der Singener Haftanstalt gelungen. Das hatte zu einem neuen Interesse an der traurigen Vergangenheit des heutigen S­ngener Senioren-Knasts geführt. Zahner traf mit dem Stück auch den wissenschaftlichen Zeitgeist. So schreibt der amerikanische Forscher Daniel Jonah Goldhagen, dass bei den ganzen Arbeiten über den Holocaust die Täter vernachlässigt worden seien. Vieles wurde in Pauschalurteilen vom Zeitgeist an zusammengefasst. Vor allem seien die Vollstrecker nicht untersucht worden. Mit Wilhelm Boger hatte Gerd Zahner einem Massenmörder ein Gesicht gegeben, war auf einen Täter aus der Region gestoßen, der Polizeibeamter in Friedrichshafen und dort schon durch Gewaltbereitschaft aufgefallen war. Seine erhaltene Geschichte beginnt eigentlich erst in Auschwitz. Und die Haft in Singen wurde ganz ausgeklammert. Am Sonntag fiel der Name Boger just bei Günther Jauch. Da ging es um die späte Aufarbeitung nationalsozialistischer Gewalt. Und da berichtete ein damals junger Staatsanwalt des Ausschwitz-Prozesses, der Fall Boger hätte von Stuttgart aus schon früher vor Gericht gehört, doch dort habe man den Aufwand eines solchen Verfahrens gescheut.

Bogers weihnachtlicher Besuch eines Christenmenschen „mißlingt“, weil aus einem Täter eben nicht so einfach wieder ein Opfer werden kann. Der Blick fiel auch auf weitere Insassen des Singener Knasts, um die sich manche Gerüchte geknüpft hatten. Recherchen brachten weitere Ergebnisse: Der so bezeichnete "Gestapo Müller" war demnach nicht Heinrich Müller von der Wannsee-Konferenz, der nach dem Krieg im Sumpf der Geheimdienste verschwunden sein soll. In Singen saß SS-Oberscharführer Franz-Joseph Müller aus Moßbach, der wegen 20fachem Mord zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Er stand auf Schindlers Liste der Gewalttäter. Zu seinen Taten gehören in den KZ-Lagern in Plaszow, Prokocim und Biezanow von Juni 1942 bis November 1943 brutale Erschießungen und Massenhinrichtungen.

So enden Geschichten weitab in der vermeintlichen Provinz. Die „Gnade der späten Geburt“ befreite meine Generation von jeglichem Kriegsleid, opferte sie zugleich auf dem bildungspolitischen Altar der Pädagogen der Nazi-Gesellschaft. 1968 wurde viel nach Vergangenheit gefragt, offenbar aber nicht genug. „Vergangenheitsbewältigung in der deutschen Gegenwartsliteratur“ war mein Examensthema bei Professor Preisendanz. Dazu gehörte auch Günter Grass als Autor. Und der landete 1944 bei der SS, was er erst spät unter Druck zugab. Damit zerbrach eine moralische Instanz. Aber was zerbricht bei Jauss heute?

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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