Erinnerungen an die Ungarn-Flüchtlinge 1956 in Singen
Erste Asylsuchende nach dem Krieg

Millionen Menschen sind in der arabischen Welt derzeit auf der Flucht. Für viele von ihnen ist Deutschland das Wunschziel. Das weckt Erinnerungen über die eigene Jugend in Singen hinaus. An die Integrationsbereitschaft appelliert Ludwig Egenhofer, wenn er als Quartiermeister des Landrats durch die Gemeinden zieht. Er erinnert an die ersten Italiener, die hier Mitbürger wurden. Heute eine Selbstverständlichkeit. Mutig bietet er Nachbarn künftiger Flüchtlingsquartiere seine Handynummer an, wenn es selbst nachts einmal Probleme gebe. Wie weit der Allensbacher Kommunalpolitiker die Singener Integrationskraft kennt, will ich nicht untersuchen. Ob er weiß, dass die ersten Italiener nach dem Eisenbahnbau Ende des 18. Jahrhunderts hier heimisch wurden? In Singen gab es immer Arbeit und Wohnung. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten Heimatvertriebene das neue Wachstum der Stadt. Später warben die Großbetriebe Gastarbeiter an. Anfang der 70er Jahre schuf die Baugenossenschaft Hegau zwei Wohnblöcke für Spätaussiedler am Langenrain. Singen wurde zu einem “melting pot“ der Nationalitäten. Inder und Pakistani kamen in den 80er Jahren via Ostberlin nach Singen. Dort wurde ihnen am Flughafen schon die Visitenkarte eines Singener Anwalts überreicht. Als Asylbewerber noch gleich arbeiten durften, beschäftigte die Singener Georg-Fischer AG diese einmal mehr. Die Probleme hätte auch Ludwig Egenhofer nicht lösen können, denn die Asylbewerber wollten sieben Tage in der Woche Geld verdienen. Nur schwerlich war ihnen zu vermitteln, dass kein deutscher Meister am Sonntag ihre Regie übernehmen wollte!

Unvergessen ist eine Geschichte, als der amtierende Ausländeramtsleiter einem Inder die deutsche Ehefrau ausspannte, ihn abschieben ließ und zeitgleich mit ihr nach Berlin reiste! Die Betreuung der Asylbewerber aus dem ehemaligen Jugoslawien war beispielhaft in Singen: Von der Kinderbetreuung bis zur Heimkehrhilfe. Für das ehrenamtliche Engagement steht Frede Möhrle mit ihren Mitstreiterinnen, deren Gastmahl eng mit dem Namen Irene Fleischmann verbunden ist. Das alles hatte eine Menge mit Presse und Öffentlichkeit zu tun. Partnerschaftliche Zusammenarbeit war oft auch mit Freundschaft verbunden. Es ging eben auch darum, wie sich das neue Deutschland Flüchtlingen und Asylbewerbern gegenüber verhält. Ein ganzes Bündel von Erlebnissen hatte mich früh geprägt, woran ich mich natürlich auch im politischen Kontext erinnere.

Mit wachen Kinderaugen hatte ich entscheidende vier Jahre in Singen im „Bullenkloster“ verbracht. Trotzig steht der Bau bis heute oberhalb der Fitting-Unterführung. Hier lebten in der 50er Jahren bis zu 240 alleinstehende Mitarbeiter der Georg-Fischer AG. Sie kamen aus ganz Deutschland nach Singen, weil es hier Arbeit gab. Arbeit fanden hier Opfer des 17. Juli. Ein Stück Zeitgeschichte lief direkt vor meinen Augen ab. Und dann kam der Ungarn-Aufstand 1956. Panische Angst machte sich in Singen breit: Gibt es Krieg? Die später staatlich verordnete „Aktion Eichhörnchen“ ergab sich von selbst, denn Hamsterkäufe waren angeraten. Meine Mutter nahm mich am frühen Abend in die Innenstadt mit und was sah ich? Leere Regale bei Gaissmaier in der Ekkehardstraße! Ich erlebte etwas völlig Neues, mir völlig Unbekanntes.

Mein Vater war vier Jahre lang Heimleiter im Ledigenheim der GF, wie es offiziell hieß – oder technisch: Hausmeister. Arbeiter wurden weiter gesucht, ungarische Flüchtlinge kamen. Und die brachten einen ganzen Rucksack voller Probleme über die tagesaktuellen Meldungen hinaus mit.

Am Anfang bekam ich von den Konflikten wenig mit: Da kamen plötzlich ganz junge Männer auf ihrer Flucht in den Westen, die erst im Aufstand voran marschiert und dann vor der russischen Armee geflohen waren. Da wir im Erdgeschoss im Haus wohnten, wurde ich bald aufgerüttelt: Warum musste mein Vater immer wieder auf Bitten von Flüchtlingen bei einem ungarischen Pfarrer in Freiburg anrufen? Warum waren alle hinterher so dankbar, der Pfarrer voran? Aus den kurzen Gesprächen in unserer Küche wurde ich nicht schlau. Das Telefon wurde mit einer Abhöranlage versehen, wir mussten uns einen Schäferhund anschaffen. Das Haus wurde im Eingang umgebaut, denn es gab nun noch einen Nachtportier. Sicherheit war Trumpf.

Ich sammelte als Bub natürlich Briefmarken. Das war im Haus bekannt. Und da war ich bald international ganz gut aufgestellt: Marken aus der französischen Besatzerzeit, der DDR, der Schweiz und natürlich jetzt auch Ungarn ganz voran. Eines Tages herrschte plötzlich überall Aufregung: Mein Vater stand mit irgendwelchen wichtigen Personen am großen Kastanienbaum links vom Haus. Sie schauten aufgeregt in die Höhe, erkennen konnte ich nichts, erfuhr aber später, was passiert war: Aus Zimmern im vierten Stockwerk war eine Antenne in die Krone des Kastanienbaums gezogen worden, durch die in den Äther gesendet worden war!

Von jetzt ab war alles anders: Der Verfassungsschutz war im Haus! Öffentlich wurde von den Erkenntnissen nichts, das hat der Name „Geheimdienst“ schon an sich. Ein Mann war häufiger da, der gehörte fast schon zur Familie. Und ich hörte so langsam aus allen Andeutungen heraus, was hier passiert war. Auf die Flucht aufständischer Ungarn vor der russischen Armee, folgte eine zweite Welle systemkonformer Männer, die überwiegend der Armee angehört hatten: Mancher „Kollaborateur“ hatte sogar gleich noch seinen Stiefelknecht für das Grobe mitgebracht! Und vom „Bullenkloster“ aus war fleißig geheimdienstliches Material gesendet worden.

Es war die heißeste Zeit des „Kalten Krieges“, in der zwei Schienen aufeinandertrafen, die politisch motivierte geheimdienstliche Tätigkeit und die immer mehr anwachsende Wirtschaftsspionage. Die Begriffe um Opfer und Täter verschwammen auch vor meinen Augen: Da sollte die zu Besuch weilende Freundin eines DDR-Flüchtlings plötzlich sein „Führungsoffizier“ aus der Nationalen Volksarmee sein?!Ein Einzelfall? Wohl kaum. Aber ich lernte langsam die Mechanismen des Ost-West-Konflikts kennen.

Die weltpolitische Struktur der Kriege und Auseinandersetzungen ist heute völlig anders, differenzierter und komplizierter. Vergessene und verschwiegene Konflikte führen zu Konflikten, die sich explosionsartig ausbreiten. Ich denke nur an die Kurden und an die PKK. Da hatten die deutschen Geheimdienste im Singener Asylbewerberheim einen PKK-Führer anonym „geparkt“, der ausgestiegen war. Dessen Tochter war entführt worden, um die PKK-Treue der Familie zu dokumentieren. Als ein Tötungskommando zum Vater unterwegs war, floh dieser gewarnt in den Rüthiwald in Singen. Die Öffentlichkeit bekam in Singen von alledem nichts mit. Der Prozess gegen den süddeutschen PKK-Führer endete vor dem Oberlandesgericht Stuttgart mit einem Deal der Bundesanwaltschaft. Ich saß anonym im Gerichtssaal. Als ich anfing Notizen zu machen, wurde der Rest Öffentlichkeit beendet.

Das sind Erinnerungen, die mich an der Glaubhaftigkeit mancher Nachrichten immer wieder zweifeln lassen. Millionen Menschen sind Spielball globaler Politikinteressen. Was können wir tun? Nur helfen, dass sie als Asylbewerber nicht nochmals zum Spielball und Opfer anderer werden!

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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