Seither sind nicht nur in Singen Jahrzehnte des Vergessens vergangen
Jugendpflege vor 40 Jahren ganz groß geschrieben

Es sind die plötzlichen Schlaglichter, die Vergangenheit wieder aufblitzen lassen. Der Tod des „ewigen Jugendleiters“ Gunter Beese war letzte Woche für mich so ein Anlass zum Nachdenken. Während des Schreiben eines Nachrufes wird vieles lebendig, Begegnungen mit dem Menschen, Umstände, mit denen man sich gemeinsam auseinandergesetzt hat. Ja, damals wurde ziemlich genau vor 40 Jahren die Jugendpflege in Singen ganz groß geschrieben. Das hatte viele Ursachen, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Inzwischen war die einstige Studentenunruhe in der Provinz abgekommen, ein allgemeines Aufbegehren gegen staatliche und gesellschaftliche Autoritäten. Das kam einher mit einer furchtbaren Drogenwelle, die bis in die Kreise von Schülern und Lehrlingen hineinreichte. Die vereinsgebundene Jugendarbeit wurde selbst von den Erziehern in Frage gestellt. So postulierte Hans-Peter Mehl, der aus Singen stammende inzwischen Freiburger Sozialexperte, die Jugend sei gruppenfreundlich aber organisationsfeindlich. Im Trend waren Jugendzentren in Selbstverwaltung, alle sprachen von „nichtorganisierter Jugend“.

Vieles glich einem Tanz ums „goldene Kalb“. Plötzlich begehrte eine junge Generation in diesem konservativ geprägten Nachkriegsdeutschland auf. Durch die OB-Wahl 1969 war die Zäsur in Singen noch tiefer: eine nachgewachene Generation forderte politischen Einfluss ein, wobei junge Lehrer in der ersten Reihe standen. Theopont Diez hatte einen folgenschweren Fehler begangen, denn er hatte den Bau des Hallenbades dem zweiten Gymnasium vorgezogen! Die fehlende sechste Schwimmbahn wurde ihm um die Ohren geschlagen, während die Lehrer in den Chor von Wilhelm Picht zur Bildungskatastrophe einstimmten.

Die Schaffung eines wirklichen Hauses der Jugend in den Räumen Freiheitstraße 4-6 wurde immer mehr zum Politikum, zumal Jugend und Soziales Kernpunkte der Dezernate von Bürgermeister Günter Neurohr waren, der sich da gegen OB Möhrle profilieren wollte. Es gab zwar lautstarke Proteste „nichtorganisierter Jugendlicher“ aber nie ein Jugendzentrum in Selbstverwaltung, dazu war die vereinsgebundene Jugendarbeit hier zu stark. Und der Stadtjugendring als Dachorganisation letztlich doch zu stark. Mit Dieter Schneider hatte die Stadt erstmals einen Stadtjugendpfleger installiert, der maßgeblich dazu beitrug, den jugendpflegerischen Aspekt ins Bewusstsein zu rücken. Aber letztlich waren es Männer und Frauen wie Gunter Beese, die durch ihre Leistung der Jugendarbeit ein tragfähiges Fundament gaben.

Aber selbst der Jugend-und Sozialplan des Konstanzer Professors Pfaffenberger war dann doch wieder umstritten. Er wollte das Singener Jugend-und Sozialamt in seinen Strukturen an die aktuellen gesetzlichen Aufgaben angleichen. Hier hatte sich eben doch viel geändert. Pfaffenberger wollte das Personal aufstocken, schlug je eine halbe Stelle für Behinderte und Drogenfragen vor. Das gab ein heftiges Contra in der politischen Öffentlichkeit: Wie könne man Behinderten abverlangen, dahin aufs Amt zu gehen, wo man auch für Drogenfälle zuständig sei!? Folge: Es gab erst einmal keine personelle Aufstockung – weder, noch!

Ein heißes Thema war die Mitbestimmung im neuen „Haus der Jugend“. Zuerst wurde ein Verwaltungsausschuss für den Jugendtreffpunkt“ unter Vorsitz von Günter Neurohr gebildet. Die vier Gemeinderatsfraktionen stellten je einen Vertreter, der Stadtjugendring zwei, ebenso zwei die „nichtorganisierten Jugendlichen“. Sie hatten im Herbst 1973 erstmals die Schließung des Hauses unter dem Druck der Drogenszene beschlossen. Daraus entstand dann der Jugendpflegeausschuss als Unterausschuss des Jugendwohlfahrtsausschusses. Der Zuschnitt der Aufgaben hatte sich geändert, die Zusammensetzung hatte sich zu Gunsten des Stadtjugendrings verschoben. In dieser Konsequenz stand auch, dass ich damals den Ausschussvorsitz übernahm. Mit Ewald Schmid und später Rolf Wagner folgten zwei Vorsitzende, die ebenfalls aus der vereinsgebundenen Jugendarbeit kamen.

Rolf Wagner hatte mit einer Aktion große Erfolge erzielt, dass nämlich in den Lokalen für Jugendliche immer ein nichtalkoholisches Getränk billiger als Bier angeboten werden müsse. Zwischenzeitlich gab es in der Lindenstraße ein Jugendhaus in Selbstverwaltung in einem abbruchreifen Haus. Die kommunale Jugendpflege hatte sich Stück für Stück neu definiert. Schulsozialarbeit rückte in den Blickpunkt, Jugendliche über 18 Jahren wurden immer stärker ausgegrenzt. Dafür wurde Gewaltprävention immer wichtiger, Kriminalprävention zum dominierenden Schlagwort, bis dann die Kelly-Inseln propagiert wurden. Der Jugendpflegeausschuss verschwand von der Bildfläche, ein Jugendparlament wurde politisch favorisiert. Der Stadtjugendring überlebte im Gegensatz zu Radolfzell und Stockach. Das ist Vorsitzendem Markus Weber zu verdanken, der die Fahne der vereinsgebundenen Jugendarbeit hoch hielt. Die wurde zwar auch von manchen Krisen gebeutelt, doch Persönlichkeiten wie Gunter Beese hielten die Fackel der Ehrenamtlichkeit auch im höheren Alter weiter hoch. Ihnen gilt der Dank vieler Generationen.

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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