Singenerin Irma Harder hat still Zeichen gesetzt
Sozialpolitik braucht Langfristigkeit

Im Alter von 87 Jahren ist die frühere Singener CDU-Gemeinderätin Irma Harder verstorben. Sie gehörte zu den Frauen der ersten Nachkriegsgeneration, die das kommunalpolitische Schicksal ihrer Gemeinde selbst in die Hand nehmen wollte. Die Tochter des mittelständischen Unternehmers Gustav Kellhofer übernahm politische Verantwortung, als man bei Kommunalwahlen noch von Quotenfrauen sprach. Als Gründungsvorsitzende des Singener Sozialdienstes katholischer Frauen schrieb sie neue Kapitel katholischer Sozialarbeit. Die Damen mischten sich ein und schufen neue Fakten durch praktisches Handeln. Dass sie Landfahrerkindern und jungen Jenischen plötzlich den Hintern putzen würden, war erst einmal unglaublich. Dass sie Ehepartner oder auch Witwen von Unternehmensführern Durchhaltevermögen an der Sozialfront beweisen würden, glaubten viele Mitbürger überhaupt nicht. Oft wurde gelästert: „Frau Direktor macht Sozialarbeit.“ Ja, Sozialarbeit braucht eben Standfestigkeit und Durchhaltevermögen. Das überraschte in erheblichem Maße. Der Dienst im Krankenhaus folgte. Der Begrüßungsdienst schloss eine wesentliche Lücke: Menschen, die zu Behandlungen und Eingriffen eingewiesen wurden, brauchten Gesprächspartner für die Ankunft.

Irma Harder nutzte ihr parlamentarisches Mandat für sozialpolitische Anliegen. Das war damals ungewöhnlich, aber auf jeden Fall wirkungsvoll. Und wenn es das gab, kam das von der gewerkschaftlichen Seite. Deshalb irritierte Irma Harder so sehr. Sie war einfach anders. Sie nahm sich Zeit für ihre Anliegen, dann sie hatte einfach Zeit und Ausdauer. Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle fühlte sich durch ihre Präsenz im Rathaus geradezu provoziert und reagierte in öffentlicher Gemeinderatssitzung: Wenn alle Gemeinderäte den ganzen Tag durch das Rathaus laufen und seine Mitarbeiter zu allen möglichen Dingen befragen würden, kämen diese überhaupt nicht mehr zum Arbeiten! Anfragen an die Verwaltung hätten auch Gemeinderäte an ihn zu richten! Da war Feuer unterm Dach!

Irma Harder agierte beharrlich, wenn sie Ideen hatte. Eine zentrale Frage war, was aus der „Alten Sparkasse“ werden sollte. Dr. Eberle hatte sie erworben und wollte sie neu überbauen. Dafür aber reichte ihm die eingeräumte Geschossflächenzahl nicht. Also ließ er die Stadt einfach hängen! Deshalb ging es auch beim früheren „Bären“, den „Bilger-Stuben“, trotz Commerzbank-Nutzung nicht weiter. Im Erdgeschoss der „Alten Sparkasse“ gab es Kunstausstellungen, oben Verwaltungsräume von Volkshochschule und weiteren unversorgten Einrichtungen. So richtig glücklich war niemand dabei. Da kam plötzlich die Idee hoch, ein Seniorenzentrum aus dem Komplex mitten in der City zu machen. Damit war Irma Harder unterwegs. Sie warb dafür. Sollte es eine Idee aus dem Rathaus gewesen sein? Gar von Alfred Mutter? Friedhelm Möhrle war strikt dagegen. Seine Stadthalle war im Bürgerentscheid gescheitert, jetzt ging es um kleinere Lösungen: Die „Gems“ ins „Kreuz“? Ein Saal für die Musikschule?

Der aufstrebende Alfred Mutter geriet im Hauptamt ins Abseits. Bei der Poppele-Zunft war er gerade Zunftkanzler geworden. Ein Signal der Wertschätzung. Dann war Bürgermeisterwahl in Volkertshausen, weil Karl Witz in den Ruhestand ging. Die Gemeinde stand finanziell vor dem Ruin. Nur mit neuen Ideen und frischem Wind konnte es vorwärts gehen. Das war die Chance für Alfred Mutter und Volkertshausen, wo die Angst vor Singen in der Verwaltungsgemeinschaft riesengroß wurde. Wer Krach mit Möhrle hatte, hatte auswärts gute Chancen: 1976 Neurohr in Radolfzell, 1983 Mutter in Volkertshausen.

Die 80er Jahre waren in der Singener Kommunalpolitik heftig. Die CDU hatte gerade ihre Absolute Mehrheit verloren. Newcomer Manfred Schlegel wurde gleich Fraktionschef. Am Ende des Jahrzehnts stand ein geplatzter Stadthaushalt, der durch ein Bürgermeistermandat für Schlegel geheilt wurde. Irma Harder stand in einem Jahrzehnt politischer Grundsatzdiskussionen mittendrin. Sie pflegte Kontakte in der Gesellschaft, eruierte Tendenzen bei der Presse, wobei sie mit beiden Beinen immer auf dem Boden stand. Ja, sie stand für das konservative Singen. Man wusste einfach, wofür sie sich einsetzte, da standen auch noch mehr Singener.

Das schuf natürlich manche Reibungsflächen – vor allem in der Position zur Frauenbewegung der 80er Jahre. Konfliktpunkte gab es gerade im Sozialbereich zwischen Jugendarbeit und Kulturpolitik im Blickfeld der Kirchen. Das Ende der offenen Jugendarbeit war in der katholischen Kirche mit dem Weggang von Jugendpfarrer Dr. Klug gekommen, jetzt rang die neue evangelische Nordstadtpfarrei der Bonhoeffer-Gemeinde um neue Wege. Die neue FDP-Gemeinderätin Ursula Oppermann hatte hier ihre Heimat. Als Pfarrer Dr. Udo Lochmann auch noch angefragt war, für die SPD für den Gemeinderat zu kandidieren, war Feuer unter dem Dach. Zuvor hatte eine Gulaschkanone für politischen Ärger gesorgt. Da hatten resolute Gemeindemitglieder die Idee, eine solche von der Bundeswehr zur Bewirtung des Gemeindefestes zu holen. In der Frauengemeinschaft hatte sich vor allem Frau Rübsaamen dafür eingesetzt. Doch Dr. Lochmann war gegen alles Militaristisches! Akzeptiert! Aber der Pfarrgemeinderat war grundsätzlich dagegen, dass ein evangelischer Pfarrer für die SPD zum Gemeinderat kandidiert!

Das Singener Theater „Die Färbe“ hatte ihren Frieden damals immer noch nicht gefunden. Als Peter Simon „Die Nacht der Tribaden“ spielte, bekam er Besuch von den durchaus militanten politischen Frauen. Plötzlich waren sie jenseits aller Grenzen und Lager beieinander und protestierten. Irma Harder und Susi Wolf, Kreisrätin und Kreisgeschäftsführerin der SPD, saßen am „Färbe“-Stammtisch plötzlich nebeneinander! Sie forderten Rechte der Frauen ein. Dieses Stück diskriminiere Frauen! Die Diskussion ging länger – ohne journalistische Ohren. Ja, das waren die starken Frauen in Singen der 80er Jahre! Und Irma Harder mittendrin, obwohl die Unternehmerstochter völlig anders ausgerichtet schien.

In der Erinnerung lebt Irma Harder weiter, merkwürdigerweise nicht unbedingt im Internet. Das kam in der Intensität nach ihrer Zeit. Denkt man weiter, dann war sie eben auch keine Persönlichkeit kurzer Zeitzeichen, schneller Schlagzeilen. Sie setzte auf langfristige Wirkung, war eher still und bedächtig.

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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