Auch Bürgermeister wandeln sich bisweilen
Wer hat Mut zur Verantwortung?

Wer will heute noch Bürgermeister werden? Zur Volkswahl anzutreten, liegt nicht im Trend. Aber 40 Bewerber gab es hingegen für die Stellvertretung des Singener OBs. Fachfrau oder Parteimann? Oder auch umgekehrt? Überraschungen sind an der Tagesordnung. Tengen hat mit Marian Schreier wieder einen 25Jährigen gewählt, bei dem Facebook zum Wahlmanager wurde. Ein Mann ohne Führerschein siegt in einer Flächengemeinde im ländlichen Raum. Mit Ute Seifried hat Singen erstmals eine Frau auf dem Bürgermeistersessel. In Konstanz war sie noch Grüne, da hatte es nicht gereicht. Zum Zeitpunkt der Wahl sind viele Bewerber parteiunabhängig, über die spätere Zuordnung für die Kandidatenlisten zum Kreistag entscheiden Wahlbezirksgröße und die vorhandene Konkurrenz. Nicht ohne Grund sprach man schon zu Zeiten von Kreisfürst Dr. Robert Maus von dessen „Landratsmehrheit“, das waren die CDU-Kreisräte und die Bürgermeister der Freien Wähler!

Spektakuläre Wechsler von Parteifarben gab es eher wenige. Unvergessen ist Günter Neurohr. Als er 1970 Bürgermeister in Singen wurde, wähnte Dr. Ernst Waldschütz, einen neuen Liberalen an Land gezogen zu haben. Dann bekam Neurohr Krach mit OB Friedhelm Möhrle und suchte Schutz bei der CDU. Mit diesem Parteibuch wurde er 1976 Bürgermeister von Radolfzell. Seine dritte Wahl gewann er als Parteiloser 1992 gegen CDU-Kandidat Frank Hämmerle. Dieser hatte 1985 bei der internen Bewerberkür der CDU gegen Joachim Fuchtel und Rüdiger Neef verloren. Neef ließ sich dann vom Rest des Gemeinderats wählen und wurde später Vorsitzender der SPD-Kreistagsfraktion! 2015 nutzte die SPD-Fraktion ihr Vorschlagsrecht, das sie 30 Jahre zuvor der CDU im umgekehrten Fall nicht gelassen hatte. Bei der Wahl von Ute Seifried stimmten auch CDU-Mitglieder mit, zumal die Kandidatin ihr früher schon zuzuordnen gewesen sei. Endstation offen gelassen!

Wichtig sind die Kandidatenmacher in den jeweiligen Gemeinden. Seit die alten Denkmuster nicht mehr funktionieren, ist der Job der Mehrheitsbeschaffer schwerer geworden. Das kirchennahe Bürgertum funktioniert als Schublade nicht mehr. Der Werbespruch, es müsse ein Verwaltungsfachmann von der Pike auf sein, zieht auch nicht mehr unbedingt, denn charismatische Quereinsteiger schafften es zuletzt immer wieder einmal: Man staunt, dreht sich um – und schon steht eine andere Mehrheit. In zwei Gemeinden im Kreis war bei der Volkswahl nur ein Bürgermeister erfolgreich: Franz Moser. Wir haben einmal lange über das Problem der Kandidatenfindung diskutiert. Hohenfels wie Hilzingen waren Gemeinden mit mehreren Teilorten. Da braucht es schon eine große Liebe zum Detail! Musik, Feuerwehr, Narrenvereine: Und überall will man den Bürgermeister bei der Generalversammlung sehen! Da bleibt mancher Verwaltungsfachmann lieber Rechtsrat in einer Großen Kreisstadt. Franz Moser hat als Quereinsteiger manchen Bürgermeister ins Amt gehoben, umso wichtiger war sein Erfahrungsschatz zu bewerten, wenngleich er in der eigenen Nachfolge an Grenzen stieß.

Bürgermeisterwahlen laufen irrational ab. Anders herum: Wo wird schon einmal ein Bürgermeister abgewählt? Otmar Kledt war nach 16 Jahren in Rielasingen-Worblingen ein Sonderfall. Er hatte nicht einmal Plakate geklebt! Andere hatten nach 16 Jahren von Landrat Dr. Robert Maus früher eher einen dezenten Hinweis bekommen. Gerade bei Kreistagswahlen zeigte sich im Heimatort, wie stark der Rückhalt für einen Bürgermeister ist. Und einen kräftig brüllenden Kreislöwen schickt niemand in die Wüste! Dabei gibt es natürlich spezifische örtliche Gegebenheiten. Manchmal sagen auch kraftvolle Gemeinderäte, ihnen sei es egal, wer unter ihnen Bürgermeister sei! Abgewählt wird eh nur der, der das Vertrauen seiner ehemaligen Wahlhelfer verloren hat. Das wird im Rückblick auf Amtsinhaber, die ihren Posten verloren haben, überaus deutlich.

Wenn am 19. April in Bodman-Ludwigshafen gewählt wird, steht Amtsinhaber Matthias Weckbach nach 16 Jahren einem politischen Newcomer gegenüber, der durch eine Bürgerinitiative gegen einen neuen Kinderpielplatz in Ludwigshafen an die lokale Konfliktfront gespült wurde. Sein Stichwort ist Bürgerbeteiligung, was zum Kernpunkt mancher Bürgermeisterwahlkämpfe geworden ist. Der 45jährige Frank Klingel Diplomingenieur ist freiberuflicher Marketing-Experte und schlägt mit einer 16seitigen Broschüre eine neue Organisationsstruktur vor: Bürgerteams sollen Gemeinderat und Bürgermeister beraten. Einen solchen Ideenpool hatte in den 90er Jahren Dr. Wolfgang Kircher im ersten Anlauf für ein Singener Stadtmarketing angelegt. Bürger belebten zentrale Arbeitsgruppen und erträumten sich die Stadt der Zukunft. Und dann schlief alles ein. Ein anderes Konzept für ein Stadtmarketing kam. Statt einer Basis baute man ein Dach, das mit Dr. Gerd Springe und Claudia Kessler-Franzen tragfähig war. Nur Dr. Wolfgang Kircher erholte sich von dem Tiefschlag nicht.

Seine Ideen leben weiter, jetzt als „Gemeinschaftsmodell“. Das ist mehr als mutig, denn in der Doppelgemeinde war „Gemeinschaft“ gerade bei Bürgermeisterwahlen seit 1976 ein Fremdwort. Damals wählte die Bodmaner Mehrheit Werner Debis zum Ludwigshafener Bürgermeister. Vor 16 Jahren kam Matthias Weckbach nach einer heiklen Wahlanfechtung ins Amt. Zehn Minuten vor Abgabefrist landete seine Bewerbung beim Wahlausschuss. Spätestens da war klar, dass Helmut Herzog nicht mehr zu halten war. Franz-Josef Schnell, heute noch verantwortlich tätig im Landratsamt Sigmaringen, sollte verhindert werden. Für ihn gab es eine Bodmaner Mehrheit politisch in schwarz-grün, Ludwigshafen votierte im zweiten Wahlgang für Weckbach. Aber was passiert jetzt? Zwei Ludwigshafener treten mit dem Kernthema Familie an. Bodmaner Ziele gibt es im neuen „Gemeinschaftsmodell“ nicht. Die „neue Ortsmitte Bodman“ propagierte Weckbach energisch. Aber wollten das die Bodmaner auch so? Marschiert die Bürgerschaft künftig auf dem Weg zur Räterepublik? Die Teams sollen Bürgermeister und Gemeinderat nicht überflüssig machen, sondern nur beraten. Die Debatte wird spannend: Modelle wie vor 100 Jahren, als die große Revolution anstand? Oder kommt alles ganz anders? Wer hat Mut zur Verantwortung: Die Kandidaten sind da, wo bleiben die Wähler dazu?

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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