Vor 45 Jahren feierte Singen letzte Jungbürgerparty
Wie kann man Jungbürger aktivieren?

Wie begrüßen Staaten ihre Jungbürger? In Singen ist es 45 Jahre her, seit im Alu-Gemeinschaftshaus zur Party geladen wurde. Mit Friedhelm Möhrle wurden neue Wege angesteuert, doch Jungbürgerveranstaltungen gerieten landauf, landab in Vergessenheit. Unsere Nachbarn in der Schweiz und in Österreich halten das Fähnlein der Erhaltung des Bürgerrechts hoch, viele Gemeinden verbinden die Riten mit der Bundesfeier. Jetzt regt sich Unmut, weil sich immer mehr Eingeladene nicht einmal mehr abmelden! Die Bedeutung des Bürgerrechts wird so in den Hintergrund gedrängt, befürchten besonders eidgenössische Fundamentalisten. Punktuell werden Jungbürgerveranstaltungen aktuell thematisiert. So hat in Baden-Baden eine Gemeinderätin der Grünen die Initiative ergriffen. Ein Signal gesetzt hat Landrat Frank Hämmerle mit seinen Einbürgerungsfeiern. Wahlrecht, Volljährigkeit, Bürgerrecht verlangen geradezu nach symbolträchtigen Veranstaltungen. Stattdessen werden die schlechte Wahlbeteiligung und das politische Desinteresse der Jungbürger beklagt. Gleichzeitig sind Jungbürgerfeste kein Thema in Singen und im Hegau. Jugendgemeinderäte sind kein Renner geworden, auch wenn der gleichnamige Singener OB Andreas hier beispielhafter Vorreiter einer alten JU-Forderung in der Praxis wurde. Zugleich wurden die Jugendringe in ihrer kommunalpolitischen Bedeutung beschnitten.

Der Deutsche Bundestag setzte mit Beschluss vom 22. März 1974 die Volljährigkeit mit 18 Jahren fest. Dem gingen jahrelange grundsätzliche Beratungen und kontroverse Diskussionen voraus. Heftig wurde gerungen: Mit 18 Jahren müsse man als Wehrpflichtiger seinen Kopf hinhalten! Aber: Ist volljährig dann auch vollwertig? Wollte also ein Student seine Studentenbude mieten, brauchte er dafür die Unterschrift der Eltern. Und erst Recht für einen Kredit! Das Thema war quicklebendig unterwegs. Aber wer thematisiert heute die Handyverträge? Wer fragt hier nach der großen Freiheit in der Realität des www?

Da ist ein Thema wahrlich auf der Strecke geblieben! Ab wann ist man erwachsen? Welche Bedeutung hat der Termin überhaupt noch? 1970 fand in Singen die letzte Jungbürgerfeier im Gemeinschaftshaus der Alu statt. Gab es früher Empfänge im Rathaus, so steuerte Friedhelm Möhrle neue Wege in Zusammenarbeit mit dem Stadtjugendring an. Es gab eine Jungbürgerparty mit einem ungewöhnlichen Disc-Jockey. Als Kopf des katholischen Jugendclubs „Onkel Toms Hütte“ hatte Reiner Wöhrstein den Zeitgeist wie kein anderer erfasst. Da saß ein junger Mann mit Köpfchen am Mikrophon, der die richtigen Platten auflegte und die heißen Themen ihnen zuordnete. Mit dem Oberbürgermeister hatte er ein klassisches 68er-Thema parat: Wie halten wir es mit „Revolution“ als zielgerichtetem großen Hit? Möhrle antwortete klug: Ihm sei „Evolution“ lieber!

Die Veranstaltung war ein Wagnis gewesen, denn neue Akteure fanden in Vorbereitung und Durchführung zueinander. Unvergessen ist Möhrles aus Berlin stammender Hauptamtsleiter Hans Müller. Er hatte das Herz auf dem richtigen Fleck und einen klaren Blick für die wahren Probleme. Beim vorbereitenden Lokaltermin in der Alu brachte er es auf den Punkt: „Am Freitagabend ist der Fischgeruch noch nicht ganz draußen!“ Beim Zeitgeist war Singen auf jeden Fall damals ganz vorne mit dabei. Als der Städtetag auf einer Tagung nach Lösungen suchte, wurde die Einladung an mich und damit den Stadtjugendring weitergereicht. Singen hatte einen neuen Weg gefunden, der sich allerdings nicht als überlebensfähig erwies. Dafür gab es plötzlich die jährliche Sportlerehrung als Treffpunkt der jungen Generation.

Und die Volljährigkeit? Das Bürgerrecht? Die Themenschwerpunkte verschoben sich gesellschaftlich wie politisch. Der neue Bürgermeister Günter Neurohr wurde Jugend-und Sozialdezernent. Das Klima an der Spitze der Stadtverwaltung wurde kühler. Neurohr flüchtete sich zur CDU und siegte 1973 bei der Kreistagswahl. Die Jugendprobleme wuchsen. Die erste große Drogenwelle erfasste auch die Stadt Singen. Neben dem „Haus der Jugend“ als „Provisorium“ in der Freiheitstraße 4-6 gab es in der Mühlenstraße ein Jugendzentrum in Selbstverwaltung. Generationskonflikte zeigten sich in neuer Dimension. Bei einer Live-Sendung des Südwestfunks mit dem Ravensburger Moderator Ossi Zerlacher krachte es im Bürgersaal! Singens „heile Welt“ war beschädigt, nachdem ein Jugendlicher leicht „high“ eine andere Sicht auf seine „Heimatstadt“ kund tat. Pikant: Es war der Sohn eines katholischen Religionslehrers!

Singen bekam einen Jugend-und Sozialplan des Konstanzer Professors Pfaffenberger. Der war von Beginn an strittig. Einmalig war der Jugendaustausch mit Zoetermeer in Holland. Ein Singener Jugendlicher durfte bei einer bundesweiten Begegnungsaktion mit nach Kanada reisen, die der Professor betreute. Glücklicher Singener war Walafried Schrott, der sich beim Ausleseverfahren als bester Jugendlicher erwies. Pfaffenberger sollte die Personalstruktur im Jugend-und Sozialamt an neuere gesetzliche Entwicklungen anpassen. Er forderte je eine halbe Stelle für Behinderte und Drogenprobleme. Das war schon wieder falsch, denn Behinderten sei es nicht zuzumuten, an der gleichen Tür wie Drogensüchtige im Rathaus anzuklopfen! Also geschah nichts.

Nichts geschah, als die neu gebildete Regionale Volkshochschule einen Mitarbeiter für Jugendbildung bekommen sollte. Ich war als Vorsitzender des Kreisjugendrings massiv dagegen, weil nach dem Subsidiaritätsprinzip dafür freie Träger zuständig sein müssten. Die Eigenmittel für eine Stelle im Zuge einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme wollte OB Möhrle über den Singener Jugendetat bereitstellen. Dafür brauchte es einen Beschluss des Jugendwohlfahrtsausschusses. Dort hatte der OB Stimmrecht, nicht aber der Bürgermeister! Also übernahm Möhrle erst-und einmalig den Vorsitz im Ausschuß. Nach langer Debatte zog Möhrle den Antrag plötzlich wortlos zurück. Er hatte wie ich mitgezählt: Stimmengleichheit drohte! Und meinen Freunden und mir war klar: Bloß keinen Antrag stellen! Es war wie beim Mikado: Wer sich als erster bewegt, hat verloren!

Bewegt hat sich in den 70er Jahren dennoch viel im Jugendbereich. Im Treffpunkt Süd gab es einen Kindergartenneubau in Konsequenz der Aufbauarbeit des Sozialdienstes Katholischer Frauen bei der Betreuung vor allem der Landfahrerkinder. Für die Planung gab es einen Unterausschuss des Jugendwohlfahrtsausschuß. In ähnlicher Rechtsstruktur gab es später einen Jugendpflegeausschuß, in dem ebenfalls Gemeinderäte und Vertreter Freier Träger zusammenarbeiteten. Als einziger Nichtgemeinderat wurde ich Vorsitzender. Ewald Schmid und Rolf Wagner wurden später Nachfolger. Rolf Wagners Amtszeit ging in die Geschichte ein: Für Jugendliche sollte in Lokalen ein nichtalkoholisches Getränk billiger als Bier sein! Er hat es damals erfolgreich umgesetzt. Im „Haus der Jugend“ war immer wieder einmal der Bierhahn dicht gemacht worden. Die „nachhaltigste“ Maßnahme war dann, dass im „Blauen Haus“ nur noch Besucher unter 18 Jahren zugelassen wurden. Damit wären wir wieder beim Wahlrecht und der Volljährigkeit. Falsch! Kommunalwahlrecht ist heute ab 16 Jahren! Aber sollte Wahlrecht nicht auch Wahlpflicht sein? Inzwischen votieren Bürgergruppen für mehr Volksabstimmungen. Könnten sie nicht auch an Jungwählermotivationen teilnehmen? Müssten wir da alle nicht mit einsteigen? Und eine weitere Bilanz 25 Jahre nach der Wiedervereinigung führen? Dafür hätte es auch keine Pegida gebraucht!

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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