Salut zum 80. Geburtstag des „Ortsvorstehers“ des Bruderhofs
Wilhelm Waibel ist Gedächtnis der Stadt

Er ist ein Musterbürger in seiner Stadt: Wilhelm Waibel feiert heute seinen 80. Geburtstag. Immer wieder hat er sich für das Gemeinwesen engagiert, obwohl er nie für den Gemeinderat kandidiert hat. So nannte man ihn früh den „Ortsvorsteher“ des Singener Bruderhofs. Mit seiner Anliegergemeinschaft hat er Stadtgeschichte geschrieben. Zeitlebens hat er sich mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Schicksal der Zwangsarbeiter beschäftigt. Er wurde die prägenden Kraft der Städtepartnerschaft mit Kobeljaki. Er hat Heimatgeschichte gelebt und Völker Verbindendes geschaffen. Dafür erhielt er höchste Auszeichnungen, darunter einen hohen Orden der Ukraine. Stets war er ein Gesprächspartner voller Wissen, der sich zum Wohle seiner Heimat eingesetzt hat.

Sein Leben und Wirken ist in Schlaglichtern vielfältig zugegen. Als Kind hat er miterlebt, wie die Singener bei Kriegsende auf die Schüppelwiese bei Ramsen flüchteten. Plötzlich tat sich die Grenze auf und es gab Momente der Hoffnung. Ja, Wilhelm Waibel sollte ein Grenzgänger werden. Als EDV-Chef der Georg-Fischer-AG trat er tief in die Industriegeschichte unserer Grenzregion ein. Später wechselte er zu Byk Gulden. Ein Mann der Daten und Fakten war er auch im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements. Er hatte gelernt, Geschichte akribisch aufzuarbeiten, Spuren gleichsam kriminalistisch zu verfolgen. Er konnte Fakten sehen und sie zugleich hinterfragen. Ausgangspunkt vieler Forschungswege ist die Theresienkapelle in der Singener Südstadt. In seinen Jugendjahren ist er eben nicht achtlos an ihr vorbei gegangen. Sie öffnete ihm Zugänge vielfältiger Art zur Singener Stadtgeschichte. Die Kapelle ist ein Zeichen und Sinnbild für französisch-deutsche Aussöhnung nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Man kann es sich kaum vorstellen: südlich der Werksgelände von Maggi und GF bestand im Krieg ein riesiges Lager von Zwangsarbeitern, die vornehmlich aus der Ukraine stammten. Und unter dem Gelände bestand ein Labyrinth von Bunkern, in die sich die Beschäftigten der Betriebe beim Bombenalarm flüchten konnten. Ein Bunkerzugang besteht noch heute ausgehend vom Gelände der Theresienkapelle, die nach Kriegsende von deutschen Kriegsgefangenen unter französischer Regie erbaut worden war. Waibel hat alle Facetten der Geschichte aufgearbeitet. Erster großer Höhepunkt war ein Empfang von Oberbergermeister Friedhelm Möhrle vor rund 25 Jahren im Rathaus für eine Delegation aus Kobeljaki, einem Standort aus der Region Poltava. Da gab es herzzerreißende Szenen, als ein Sohn eines in Singen Zwangsbeschäftigten auf den Sohn dessen damaligen Chefs in der GF stieß. Da hatte es nämlich entgegen aller Befehle zwischenmenschliche Kontakte gegeben! Ein anderer „Ehemaliger“ stand plötzlich auf dem Waldfriedhof vor seinem Grabstein!

Wilhelm Waibel hat den Anstoß für Entschädigungen für Zwangsarbeiter von einst gegeben. Großbetriebe haben sich zu ihrer Schuld von einst bekannt, längst bevor Otto Graf Lambsdorff für die Bundesregierung hier tätig wurde. Waibel setzte sich aber genauso für seine engste Umgebung, dem Neubaugebiet Bruderhof ein. Der dortige Bebauungsplan sah ein Einkaufszentrum mitten im Wohngebiet vor. Dagegen kämpfte die Anliegergemeinschaft mit ihrem Vorsitzenden Waibel. Eine potente Investorengruppe aus Frankfurt hatte schon beide Füße in der Tür. Die Anlieger fürchteten nichts mehr, als zu einer Verkehrsachse zu werden: Vicinalweg zur Alu, direkte Erschließung nach Friedingen. Nach einem Interview mit Wilhelm Waibel schrieb ich im „Schwarzwälder Boten“, dass der damalige Stadtoberbaudirektor Hannes Ott ihm gesagt habe, wie der Supermarkt zu verhindern sei: Man müsse den Bebauungsplan einfach für fehlerhaft erklären! Noch am gleichen Abend schickte OB Möhrle Ott in den Ruhestand. Das mit dem Bauungsplan lief plötzlich auf dieser neuen Schiene. Und die Investoren um Abraham Wollhändler zogen ihre Schadensersatzklage gegen die Stadt Singen während des öffentlichen Landgerichtsprozesses zurück!

Politisches Kapital hat Waibel aus seinen Erfolgen nie ziehen wollen. Er hat sich schon früh für die Erhaltung der St. Martins-Kapelle auf dem Alten Friedhof eingesetzt. Dort hat ihm vor wenigen Jahren der Singener Autor Gerhard Zahner mit dem Nachkriegs-Epos „Boger“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Der junge Waibel war vielerorts auf Spurensuche gewesen, so auch im Singener Gefängnis und hat Schicksale aufgespürt. Dank Wilhelm Waibel wissen wir heute mehr über Singen, auch mehr über Zusammenhänge in der Welt. Wir stehen im Brennpunkt der Welt. Wir sind nicht Provinz – wir müssen nur merken, wann der Hauch der Geschichte uns trifft! Danke, Wilhelm Waibel.

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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