Der schwierige Weg zwischen Singen und Kobeljaki
„Wir sind keine Feinde mehr“

Wie ist das mit der Ukraine? Ludmilla Owdijenko begleitete als Journalistin die schwierige Annäherung zwischen Kobeljaki und Singen seit 1990. Wilhelm Waibel bezeichnete sie bei ihrer Arbeit immer als korrekt, aber distanziert. Er spürte, dass da noch etwas im Hintergrund eine Rolle spielte. Das alles hat sie 2006 in ihrem Buch „Wir sind keine Feinde mehr“ nachvollziehbar dokumentiert. Jetzt liegt es in deutscher Übersetzung dank Wilhelm Waibels Initiative vor. Am 20. September soll die Buchtaufe im Kunstmuseum stattfinden. Wichtig für alle Begleiter der Städtepartnerschaft zwischen Singen und Kobeljaki: Erstmals gibt es eine gedruckte Chronik der Annäherung, geschildert aus mehreren Sichtweisen. Die bereits verstorbene Autorin Ludmilla Owdijenko verknüpft zwei Lebenserfahrungen: Ihre und die ihres Vaters. Sie beschreibt das schwere Schicksal dieses Landes in den letzten hundert Jahren eindrucksvoll. Da ist die geopolitische Situation der Ukraine zu sehen: ein stolzes Volk zwischen den Machtblöcken. Da hat sich bis heute nichts geändert. Die Position ihres Vaters: „Barfuß, zerlumpt, aber mit einer Flagge in der Hand!“ Das hat Ludmilla Owdijenko auch so übernommen. In einem anderen Punkt trennten sich die Wege. Der Vater meinte, diese starke, freiheitsliebend Ukraine habe ihr Glück unter dem Dach der großen Sowjetunion gefunden. Der Vater starb als Stalinist. Er glaubte in die sozialistische Lehre. Nur würden die „da unten“ einiges falsch umsetzen. Ludmilla Owdijenko ging den schwierigeren Weg: Sie wollte verstehen, was um sie herum passierte, ließ sich auf neue politische Entwicklungen ein. Am Ende stand ihre Erfahrung: „Wir sind keine Feinde mehr“.

Die Journalistin verknüpfte zwei Lebenserfahrungen zu diesem Buch. Das Tagebuch ihres Vater schildert die Besetzung der Ukraine durch deutsche Soldaten, dann das Schicksal der Zwangsarbeit, trotz derer er die Liebe seines Lebens fand. Aber was passierte nach dem Krieg? Wie ging das Land mit den Menschen um, die für es als Patrioten gelitten hatten? Da beginnen die bohrenden Fragen der Tochter: Warum durften die befreiten Zwangsarbeiter nicht einfach in ihre Heimat zurückkehren? Warum landeten sie in sowjetischen Infiltrationslagern? Viele Antworten ergaben sich aus den Recherchen von Wilhelm Waibel, denn er machte ein innenpolitisches Problem der Ukraine deutlich. Zwangsarbeit wurde verschwiegen. Die angekündigten Entschädigungen durch den Fonds der deutschen Wirtschaft brachte Bewegung in die Welt der Erinnerung. Aber der Vater verdrängte weiter!

Was macht das Buch so lesenswert? Da gibt es sicher unterschiedliche Zugänge zum Thema. Mich fasziniert die menschliche Nähe zum Thema, die politische Großwetterlage, die bis in die kleinste Familie hineinwirkt. Und: Wie mag das in der Ostukraine heute aussehen? Aber dann ist da die spürbare Authentizität über allen Berichten und Dokumentationen. Ich war nie in Kobeljaki, obwohl mich Wilhelm Waibel immer wieder zum Mitkommen ermuntert hatte. Ich war allerdings beim ersten Besuch einer Delegation aus Kobeljaki bei Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle im Singener Rathaus unter dem Bild von Otto Dix („Krieg und Frieden“) im Ratssaal dabei. Ich werde nie vergessen, wie sich zwei Söhne umarmten, deren Väter während der Zwangsarbeit bei Georg Fischer Freunde geworden waren.

Über die Jahre hinweg gab es unzählige Gespräche mit Wilhelm Waibel, der seine Erfahrungen aus vielen Begegnungen mit der Vergangenheit ungeschminkt wiedergab. Vieles war erschütternd. Wie war die Sowjetunion mit den Zwangsarbeitern umgegangen? Ihnen drohte die „Umerziehung“, weil sie trotz Krieg und erlittener Zwangsarbeit eine Gesellschaft kennengelernt haben, die der real existierende Sozialismus seinen Arbeitern nicht bieten konnte. Das alles schildert die Autorin ihrerseits im Buch. Dazu kommen ihre persönlichen Eindrücke in Singen. Die Sauberkeit des öffentlichen Raums fasziniert sie. Sie sieht Kleiderständer draußen vor „Heikorn“ auf der Straße stehen, die offensichtlich keiner klaut!

Bezeichnend ist das Erleben der GF-Jubiläumsfeier in Singen: Da sind Arbeiter und Chefs kleidungsmäßig nicht zu unterscheiden. Aber dann kommt der Festakt. Auf der Bühne erscheinen endlich die Obersten, die präsidierenden Funktionäre. Alle schweigen im Saal. Die Akteure holen dann ihre Papiere aus dem schwarzen Aktenkoffer: und der Chor beginnt zu singen! Ludmilla Owdijenko hat viele Aspekte aufgezeichnet. Manches wird zu einer Homage an die Akteure. Kurt Wolf hatte 1992 den Antrag zu einer Städtepartnerschaft im Gemeinderat gestellt, nachdem er zuvor in Kobeljaki auf Erkundungsfahrt gegangen war. Wilhelm Waibels Mission war immer, die Singener Großbetriebe zum Bekenntnis zu ihrer Vergangenheit im Krieg zu bewegen. Die Georg-Fischer AG hatte dazu sogar eine wissenschaftliche Aufarbeitung in Auftrag gegeben. Für die Alusuisse hatte sich Verwaltungsratschef Theodor M. Tschopp selbst über die Situation der Zwangsarbeiter in der Ukraine informiert. Wilhelm Waibel hatte ihn durch seine Arbeit motiviert.

Eine wahre „Deutschstunde“ ist ein Interview, das Ludmilla Owdijenko mit Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle und seiner Frau in Kobeljaki geführt hatte. Möhrle stellt dabei die demokratischen Strukturen in der deutschen Partnerstadt vor. Dabei müht er sich, eine Sprache zu finden, die bei den Menschen in der Ukraine einen Widerhall finden kann. Da geht es darum, wie ein Oberbürgermeister mit Macht umgeht, was die Aufgabe der Presse ist – und wie alle in einer Stadt miteinander umgehen. Bei der Lektüre gehen einem viele Gedanken durch den Kopf: Wer die abendlichen Bilder im Fernsehen sieht, fragt sich, ob viele nichts dazu gelernt haben? Die Autorin offenbart ihren Fortschritt auf jeden Fall: „Wir sind keine Feinde mehr“. Welchen politischen Auftrag wir aktuell daraus ziehen, wird uns überlasseen.

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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