Liebe Leserinnen und Leser,

wir wissen gar nicht so recht, wie wir heute anfangen sollen. Da hat sich in Berlin gerade Wut, Unsicherheit und Angst mit der Suche nach Entlastung verbunden und heraus kam eine Demonstration und Stimmen zur Demonstration, die man erst einmal in Ruhe sortieren müsste: Wer war da eigentlich alles unterwegs bei dieser Demonstration? Gab es überhaupt ein gemeinsames Motiv? Und waren es 17.000 oder 1,3 Millionen Menschen?

Da dreht sich einem als Medienmensch der Kopf. Beginnen wir bei den Zahlen: Einige klassischen
Medien berichteten, gemäß Polizeibericht, über 20.000 Teilnehmer an der mund- und nasenschutz­losen Demonstration, die von den Stuttgarter »Querdenkern 0711« initiiert worden ist. Und offensichtlich Demonstrations-euphorisierte Teilnehmer wollten 1,3 Millionen Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausgemacht haben. Und so waren am Wochenende auf den ach so sozialen Medien Facebook und Twitter dann Interpretationsschlachten zu beobachten, ein ausgeuferter Kampf mit schein­baren Foto-Beweisen, üblen Beleidigungen, der vor allem eins war: Symptomatisch für eine ganze Gesellschaft.

Die Wahrheit kennen wir leider nicht, wir waren nicht dabei.

Stattdessen wollen wir einmal etwas querdenken und in die Geschichte blicken: Im Mittel­alter wütete auch hier in der Region die Pest, zahlreiche Pestkreuze legen davon Zeugnis ab. Und viele suchten nach einfachen Lösungen und Wahrheiten und so sickerte eine einfache Lösung irgendwann in die Gesellschaft ein: Die Juden hätten die Brunnen vergiftet, hieß die. Zwischen 1348 bis 1351 wurden so in vielen Orten Juden hingerichtet von einer aufgebrachten Gesellschaft, die den Tod so nahe hatte wie nie zuvor. Hier in der Nähe passierte das zum Beispiel in Freiburg und Basel.

Davon freilich ist das, was in unserer Gesellschaft da gerade passiert, weit weg, aber es gibt eine Gemeinsamkeit: Die Brunnenvergiftungstheorie und die grausamen Folgen für die Juden in vielen Orten waren die Folge letztlich von undifferenzierter Wahrnehmung. Die Gesellschaft konnte es einfach nicht aushalten, dass es keine eindeutigen einfachen Lösungen gab.

Auch heute ist nicht sicher, ob jede Corona-Maßnahme die sinnvolle Wirkung hat und hatte. Das heißt, auch heute müssten wir den Mut haben zu akzeptieren, dass Wissenschaft nicht immer recht hat, weil der Wissenschaftler an sich immer so lange recht hat, bis seine These widerlegt ist. Also: Ein bisschen mehr Demut täte denen gut, die scheinbar so sicher Fakten kennen. Und gleichzeitig wäre sinnvoll, dass wir Laien verstehen, dass Entscheidungen (also auch die Corona-Entscheidungen) immer einfach getroffen werden müssen und ihre Wirkung davon lebt, dass andere dann mit­ziehen. Und Entscheidungen nie sicher richtig sind, sonst müsste ja niemand entscheiden.

Die Realität heute ist eine andere als zu Pestzeiten: Es sind nicht viele Menschen an Covid 19 gestorben in Deutschland verglichen mit den Vorjahreszeiträumen. Und damit kam Deutschland besser durch die ersten Monate als die USA, Großbritannien, Spanien oder Italien. Aber genau das scheint das Problem zu sein: »Es ist doch nichts, warum müssen wir dann Mund- und Nasenschutz tragen«, fragen viele und machen daraus so eine grundsätzliche Forderung nach mehr Freiheit.

Die Frage, die wir haben, ist: Haben wir nicht sehr viel Freiheit in unserer Gesellschaft? Brauchen wir nicht mehr Verantwortung und weniger Hysterie? Auf jeden Fall glauben wir, sind Freiheit und Verantwortung ein Paar. Und über dieses Paar sollten wir uns in der Gesellschaft an vielen Stellen Gedanken machen und wieder diskutieren – auch wenn es schwer fällt.

Was, und das freut uns, in der übersichtlichen Gesellschaft in der eigenen Stadt und im eigenen Ort zusätzlich gar nicht so komplex ist, man muss nur wollen.

Insofern haben natürlich auch alle die Zuschriften eine Berechtigung, die uns mehr oder weniger freundlich darauf aufmerksam gemacht haben, dass auf unserem Titelbild letzte Woche die Menschen allzu nahe zusammenstanden… Das war kein gutes (Vor)-Bild.

Wir werden etwas achtsamer sein.

Eine schöne Woche, in der Sie ihre Freiheit genießen können hier in dieser wunderschönen Region.

Carmen Frese-Kroll, Verlegerin
Anatol Hennig, Verlagsleiter
Oliver Fiedler, Chefredakteur

Autor:

Redaktion aus Singen

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