Falscher Drogendoktor stürzt Polizeichef

Vor 40 Jahren war die Welt in Singen und im Hegau keinesfalls in Ordnung. Ein Buch wurde darüber nie geschrieben, denn das Ausmaß der Drogenwelle, die über unsere Region hereinschwappte, wurde politisch gerne unter den Teppich gekehrt. Vor genau 40 Jahren wurde das „Haus der Jugend“ in den Räumen Freiheitstraße 4-6 nach einem Umbau unter dem Motto „Jugend baut für Jugend“ eingeweiht und kurz darauf wieder geschlossen. Chaotische Umstände mit Drogen und Rockerunwesen hatten im zuständigen Unterausschuss des Jugendwohlfahrtsausschusses (so hieß das damals noch) zum Beschluss an die Adresse von Bürgermeister Günter Neurohr geführt: Sollte die Stadtverwaltung beabsichtigen, das „Haus der Jugend“ zu schließen, dann solle sie das sofort tun!

Das geschah dann auch. Aber was folgte war kurios: Das „Jugendhaus“ wurde besetzt – und zwar am Abend von der Polizei! So wollte man einer Besetzung durch Jugendliche zuvorkommen. Am Abend darauf protestierten rund 150 junge Leute im Park vor dem Haus gegen die Schließung. Die Situation war verrückt: Drinnen die Polizei – draußen das vermeintliche Publikum. Seitens der Stadtverwaltung stellte sich niemand den Protestierern, deren Wortführer ein später mehrfach verurteilter Kopf des bundesweiten Rotlicht-Milieus war. Das übernahm Stadtjugendring-Vorsitzender Gotthard Wolf, der trotz der brüllenden Masse ruhig blieb.

Das war nur ein Schlaglicht aus dieser Zeit. Im alten Dorf gab es ein autonomes Jugendzentrum, ein beliebter Anlaufpunkt war die Teestube in der Mühlenstraße, die noch eine Wohnunterkunft in der Nachbarschaft hatte. Diese wurden von einem Verein zur Drogenbekämpfung im Landkreis Konstanz betrieben, dessen unermüdlicher Vorkämpfer der Singener Pathologe Professor Heinz Rübsaamen war. Die Szene war in Singen für jeden sichtbar: Wenn neue Drogen geliefert werden sollten, warteten die ausgemergelten Süchtigen zum Beispiel schon am Hauser-Brunnen auf neuen „Stoff“. Immer wieder sorgten Drogentote für Schlagzeilen. Zu einem spektakulären Prozess vor dem Konstanzer Landgericht kam es, nachdem ein letztlich Unbefugter das Chemie-Labor im Wahlwieser Pestalozzi-Kinderdorf dazu missbrauchte, Heroin mit Strychnin zu strecken, was in Serie zu Todesfällen führte. Die Medienresonanz war unterschiedlich. Als Autor vieler Drogengeschichten im „Schwarzwälder Boten“ wurde ich oft als „Erfinder“ der Drogenprobleme dargestellt. Für Furore sorgte dann Ende 1976 eine Titelgeschichte im „Wochenblatt“ von mir, in der ich dokumentierte, dass manche Drogenfälle in Singen in der Verwaltung „hausgemacht“ seien. Anlass war unter anderen ein Fall, wo ein Jugendlicher im „Haus der Jugend“ auffällig geworden war. Doch die Information, dass sein Fall (lebte beim alleinerziehenden Vater) bereits im Jugendamt anhängig war, ging im Verwaltungsalltag unter. Dann wurde er mit einer Überdosis tot im Kellerabgang des Wohnhauses gefunden!

Eine der zentralen Fragen war, ob die Polizei genug für die Drogenbekämpfung leiste. Die Polizeidirektion war in Konstanz, Singen weit weg. Und Polizeichef Hans Stather war mehr für seinen Alefanz bekannt, wofür er auch bald den gleichnamigen Fastnachts-Orden erhielt. Das verlief alles in einer Grauzone, bis ein Mann namens Sandy Schleasing auf der Bildfläche erschien. Was einst der Hauptmann von Köpenick war, sollte er für Singen werden. Sandy wohnte in der Teestube. Er sah, wie sich Professor Rübsaamen um das Wohl seiner Probanden kümmerte, wobei ihm immer wieder Hemmnisse in den Weg geschoben wurden. Sandy gehörte zu den Helfern, die Zugang zum Telefon hatten. Dabei erlebte er immer wieder, wie Wünsche abgewimmelt wurden. Probleme gab es auch mit Apotheken oder Krankenkassen. Einmal meldete sich Sandy dann als „Dr. Schleasing“. Und siehe, es klappte wie am Schnürchen.

Über Schleasing hatte ich in dieser Phase nie geschrieben, ihn aber sehr wohl zu einem abendlichen Umtrunk getroffen. Er gab an, in New York gelebt und dort auch in der Drogenberatung Erfahrungen gemacht zu haben. Er war schon ein exzentrischer Typ, doch bei der Einschätzung der Hegauer Drogenszene waren wir uns absolut einig. Bedingt durch den Sitz der „Heimatzeitung“ in Konstanz galt die Kreishauptstadt immer noch als heile Welt in Sachen Drogen. Das sollte sich dank Sandy ändern. Eine dortige Elterninitiative hatte ihn als Referent eingeladen, ein Lokalredakteur machte seine Schlagzeilen des Lebens: Endlich hatte Konstanz auch in Sachen Drogen Singen eingeholt!

Sandy hatte inzwischen „leicht“ überzogen und sich am Telefon mit Dr. Dr. Schleasing gemeldet. Erstens klappte alles jetzt noch besser, doch seine Vorwürfe Richtung Polizei riefen den Konstanzer Polizeichef Hans Stather auf den Plan. Der ließ in New York ermitteln und hob in einer Pressekonferenz zum großen Schlag aus: Sandy sei dort wegen Drogenmissbrauch mit dem Gesetz in Konflikt gekommen! Der große Drogenbekämpfer? Alles nur Schwindel! Die Schlagzeilen jagten einander. Mich betraf das nicht, denn ich war dem vermeintlichen Dr. Dr. nicht aufgesessen.

Und Hans Stathers martialischer Rachefeldzug nahm plötzlich eine unglaubliche Wende. Die Polizeidirektion rief zu einem Hearing über Drogenfragen. In einer Runde voller Uniformen fielen zwei Personen aus dem Rahmen: der Betreuer und Streetworker der Singener Teestube und ich als Vorsitzender des Kreisjugendrings, der nebenher noch eine eigene Drogeninitiative betrieb. Auf der Polizeiseite waren mir unbekannte Größen und Spezialisten vertreten. Die Gespräche waren äußerst konstruktiv, bis Hans Stather ein Papier auf den Tisch legte, eine Art Resümee, das einem „Persilschein“ für Stather gleichkam. Der Vertreter der Teestube und ich schauten uns kurz an (gesprochen haben wir nie viel miteinander) und schüttelten die Köpfe. Damit war die Runde beendet. Hans Stather war nur noch kurze Zeit im Amt. Und Sandy wurde bei seinem Weg in den endgültigen Ruhestand von seiner Bewährungshelferin in alle Richtungen beschützt!

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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