Seit Singener Abschiebungsfall hat sich nichts geändert
Lampedusa: Europas ungelöstes Asylrecht

In den 70er Jahren waren die Fragen an das Asylrecht vor allem auf Inder und Pakistani gerichtet. Sie wohnten im erst kürzlich abgerissenen Ausländerwohnheim an der Bohlingerstraße in Singen. Viele Schicksale gab es im Polizeibericht nachzulesen. An die Polizeimeldungen hatte man sich gewöhnt, denn viele Streitigkeiten hatten einen religiösen oder politischen Hintergrund. Da fiel ein Name aus vielen Gründen völlig aus dem Rahmen: Imre Szilagyi. 1978 war er 47 Jahre alt. Kunstmaler von Beruf. Und da wurde es schon schwieriger mit der Definition. Er war ein Ungar mit deutschen Bezügen, ein Opfer deutscher Geschichte. Und nun stand er in Singen vor der Tür, umzingelt von den Paragrafen des deutschen Asylrechts. Die aktuelle Diskussion um die afrikanischen Flüchtlinge, die über Lampedusa in die EU gelangen, wirft einen enormen Schatten zurück, denn in 35 Jahren hat sich letztlich nichts geändert, denn Italien anerkennt zwar politische Flüchtlinge, hat für sie aber keine Arbeit und will sie deshalb schnell wieder loswerden. In anderen EU-Staaten können sie aber nicht mehr als Flüchtlinge anerkannt werden, wenn sie das schon sind. Einen solchen Fall von „Illegalen“ hat das ZDF vor zwei Wochen in Frankfurt „unter den Brücken“ aufgegriffen, an dem die Regulierungswut der Eurokraten ebenso vorbeigegangen war.

Der Fall „Imre Scilagyi“ ist ein Relikt aus dem „Kalten Krieg“ zwischen Ost und West. Und weil Putins Amnesty-Orgie derzeit hinzukommt, lohnt sich ein Rückblick auf ganz besondere Weise, weil der Fall damals in Singen über Monate hinweg die Schlagzeilen dominierte. Fangen wir mit dem geschichtlichen Hintergrund an: Viele Ungarn dienten im Zweiten Weltkrieg in der deutschen Armee. Imres Vater und ein Bruder kamen so ums Leben. Imre wurde wie ein Kollaborateur behandelt und landete im russischen Gefangenenlager. Reden wir nicht vom „Archipel Gulag“: Imre rettete sich durch die Fähigkeit, russische Vorgesetzte und Wärter zeichnen zu können. Er überlebte und kam auf freiem Fuß, aber ohne Pass, mit dem er ins westliche Ausland hätte ausreisen können. Nicht einmal zu den sozialistischen Brüdern durfte er reisen. Für eigene Kunstausstellungen durfte er nicht malen – aber für den staatlichen Kunsthandel, der Imres Bilder gegen Devisen ins Ausland verschieben konnte.

Er hatte sogar einen eigenen Galeristen in Schaffhausen, der mehrere Ungarn auf dem europäischen Markt vertrat. Zu ihm wollte Imre an dem heiß ersehnten „Tag X“, als er seinen ersten Pass bekam, der ihn immerhin über Ex-Jugoslawien bis nach Triest kommen ließ. In Italien stellte er Asylantrag, was völlig unproblematisch war, denn er war in Genf als Politisch Verfolgter seitens der UNO-Stellen längst registriert gewesen. Doch da begannen die wirklichen Probleme: Imre wollte nach Deutschland, in das Land, für das sein Vater und ein Bruder gekämpft hatten und gestorben waren. Doch Italien hatte seine eigene Abschiebepraxis: Ungarn kamen in die USA! Da schrieb man ihnen die besten Integrationschancen zu – und das gerade auch als Maler! Macht nichts, dachte Imre, und fuhr zu seinem Galeristen nach Schaffhausen. Beim zweiten Grenzübertritt nach Deutschland wurde er festgenommen und vom Singener Ausländeramt wieder nach Italien abgeschoben. Der Haken: Im freien Europa kann man nur einmal Asyl bekommen. Imre hatte das im EU-Land Italien glatt erhalten, weil sein Fall in Genf in den zentralen Akten politisch Verfolgter dokumentiert war. Das dauerte nach späteren Berichten nur eine Woche; und damit galt er für Deutschland auf jeden Fall auch nicht mehr als Verfolgter. Und Italien hatte da seine eigene Praxis, was Ungarn betroffen hat.

Doch im Fall von Imre sollte alles anders laufen. Er hatte in kurzer Zeit Kontakte in Singen gefunden. Und der inzwischen verstorbene Heino Heitmeyer setzte alle Hebel in Bewegung, um Imre zu helfen. Die Redaktionen des „Singener Wochenblatts“ und des „Schwarzwälder Boten“ in Singen machten Imres Abschiebung zu ihrem Fall. Und sie hatten Erfolg, weil sie in wenigen Wochen ein Netzwerk der Hilfe aufbauen, das verhinderte, dass Imre zu einem Politikum im Asylrechtsstreit werden konnte. Mehr noch: Hier waren alle Parteien mit dabei und trugen ihren Part dazu bei, bis Imre im Singener Rathaus ein deutscher Pass von Hauptamtsleiter Hans Müller übergeben werden konnte.

Erwin Teufel war damals Fraktionsvorsitzender der CDU im Landtag. Er war im Auto mit seinem damaligen persönlichem Referenten Hans-Peter Repnik unterwegs, als sie Nachricht von der fragwürdigen Abschiebung bei Nacht und Nebel im Radio gemeldet wurde. Teufel startete sofort eine Anfrage im Landtag. Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle (SPD) kannte Grenzschicksale aus seiner Zeit in Berlin. Und sein aus Berlin stammender Hauptamtsleiter Hans Müller klemmte sich hinter den Fall. Fast jeden Vormittag telefonierten wir miteinander, knüpften das Netz der Hilfe enger. Das erste Ziel wurde bald erreicht: Imre musste wieder zurück nach Singen gebracht werden. Das war der erste Schlag gegen den übereifrigen Leiter des Singener Ausländeramts. Doch das war noch keine Daueraufenthaltserlaubnis, an der nun fieberhaft gearbeitet wurde. Ins Boot kam auch die FDP, deren Bundestagsabgeordneter Manfred Vohrer Szilagyi in Singen besuchte. Kontakt hergestellt hatte ich zu Andreas von Schoeler (SPD), der zuständiger parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium war. Erwin Teufel traf Imre am Rande einer Veranstaltung der CDU in Singen. Der humanitäre Aspekt rückte in den Vordergrund: Ein sichtlich kranker schwergewichtiger Mann brauchte eine neue Heimat.

Heino Heitmeyer fand eine Wohnung in seiner Nachbarschaft, wo er Imre auch betreuen konnte. Eine erste Kunstausstellung wurde im Bürgersaal von Konstanz organisiert. Aber für Imres Bilder war hier nur schwer ein Markt zu finden. Er konnte Portraits zeichnen und Motive kopieren, die eigene Kreativität hatte er möglicherweise schon in der russischen Haft verloren. Das sagte ich auch Hans Müller auf die Frage, ob Imre hier in Singen von seiner Malerei werde leben können. Allen war klar: Hier geht es um einen Sozialfall mit einem schwerwiegenden politischen Hintergrund. Und Ehrlichkeit konnte dabei nur helfen. Auch das haben wir alle aus dem Fall gelernt.

Der nächste Zug führte in den Landtag. Mit Heino Heitmeyer präsentierte ich Imre dem Petitionsausschuss. Zusammengequetscht saßen wir im Büro von Hans-Peter Repnik - ein Abgeordneter trudelte nach dem anderen ein: Immer die gleichen Fragen, die Sorgen um die Zukunft. Das werde ich nicht vergessen: Vorsitzender Alois Schätzle saß einfach auf dem Boden: Politik unkonventionell zum Anfassen.

Dem Ziel waren alle näher gekommen. Der Pass winkte. Imre schaute am Tag hoffnungsvoll aus dem Fenster seiner Wohnung heraus. Kinder spielten, bekamen oft Süßes und Cola von Imre geschenkt, der sich als Kopierer mit Mühe über Wasser hielt. Der liebenswürdige alte Mann lief aber auch Gefahr, ausgebeutet zu werden. 50 Mark für ein Bild von Imre: Nicht immer wurde das auch gezahlt! Ein Dix-Fälscher lässt grüßen!

Eines Tages war es ruhig um Imres Wohnung geworden. Was war mit ihm passiert? Hat ihn wieder einmal jemand zum Kopieren von Bildern zu sich eingeladen? Die Wochenblatt-Recherchen stimmten traurig: Imre war an Weihnachten vom Krankenwagen abgeholt worden. Da es im Singener Krankenhaus keinen Beatmungsplatz mehr gegeben hatte, wurde er nach Konstanz gebracht, wo er kurz darauf starb. Und wieder gab es beim toten Imre die gleiche Frage wie beim lebendigen: Wer ist für ihn zuständig? Wer nimmt ihn? Zahlt der das Sozialbegräbnis, wo er zuletzt gelebt hat oder der, wo er gestorben ist? So ruhte die Leiche tagelang im Kühlhaus in Konstanz. Als Oberbürgermeister Andreas Renner davon Kenntnis bekam, übernahm er die Verantwortung. Imres Freundeskreis half mit, eine würdige Trauerfeier auszurichten. Die Orgel spielte zum Abschied, doch der Platz im anonymen Grab auf dem Singener Waldfriedhof blieb leer. Eine bisher unbekannte Schwester Imres meldete sich und übernahm die Urne.

Dieses Flüchtlingsschicksal bleibt Mahnung über den Tag hinaus: Seht das persönliche Schicksal hinter den bloßen Zahlen und Paragrafen! Und löst endlich die Probleme statt sie zu verwalten!

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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