Was bewegt den Wähler wirklich noch?

Abstimmungen faszinieren die Menschen. Da kann man raten, tippen, selbst Wetten abschließen. Da gibt es Emotionen unbekannter Art und Weise. Die einen fiebern Ende Oktober der jährlichen Jahreshitparade in SWR1 entgegen. Was für die einen schon zum schier Lebensinhalt wird, ringt anderen nur ein müdes Lächeln ab. Und dann steht eine ultimative Zahl im Raum, die Wahlbeteiligung in Prozenten! Wer Abstimmungen als Marketing-Aktion sieht, kann hinterher leicht mit stolzgeschwellter Brust den Erfolg verkünden, wenn sich Zustimmung zu einem Produkt locker in Euro umrechnen lässt. Bei Wahlen sind hinterher immer häufiger die Gesundbeter gefordert. Sie finden Ausreden, wo ihnen die Argumente ausgehen. Und vielleicht muss man heute gar Anleihen am seligen Oswald Kolle nehmen: „Der Wähler, das unbekannte Wesen“.

Keine Sorge, das gibt keine Mathematikstunde oder gar eine Statistik-Vorlesung für fortgeschrittene Semester! Und es gibt auch keine Hitparade in Sachen Wahlbeteiligung bei Bürgermeisterwahlen im Kreis Konstanz. Die Wähler sind uns trotz der Prognosen der Meinungsforscher und ihrer Wurzelziehungen fremder geworden. Eines zeigen die steigenden Zahlen der Briefwähler auf jeden Fall: Seinen heiligen Sonntag lässt man sich nicht mehr so gerne durch einen Gang zur Wahlurne unterbrechen! So viel in einem die staatsbürgerliche Pflicht nun auch nicht wert.

Dabei ist der Wert der einzelnen Stimme durchaus gestiegen. Singen ist ein Musterbeispiel vor unserer Haustür: Innerhalb von acht Jahren gingen gleich drei OB-Wahlgänge mit knappen Vorsprüngen sogar unter hundert Stimmen aus! Dem Wahlbürger wurde in unserer Republik zwar immer erklärt, dass jede Stimme zähle, doch glauben wollte dies niemand so recht! Wie oft mag hinterher die Selbstanklage erhoben worden sein: „Oh wäre ich bloß zur Wahl gegangen!“ Denn eines ist klar: Wer nicht wählen gegangen ist, hat hinterher auch kein Recht zu schimpfen!

Doch das scheint des Deutschen liebste Beschäftigung geworden zu sein. Die einen schimpfen aus Herzenslust am Stammtisch, wissen alles besser und tragen nie Verantwortung. Ihnen bietet das Internet neuerdings eine unendliche Zahl von Plattformen, auf denen man auch noch anonym bleiben kann. Da kennt einen nicht einmal mehr ein Stammtischbruder. Da kann niemand Klage führen, wenn Beschuldigungen noch so unterirdisch waren.

Warum soll das, was im Internet geht, nicht auch im Printmedium, der Zeitung gehen? Jetzt müssen die Redakteure schon Detektiv spielen, um herauszubekommen, ob es den Leserbriefschreiber überhaupt gibt?! Und sie sind dann erfolgreich, wenn sie keinen finden. Schon irgendwie pervers? Aber: Was will der Wähler eigentlich? Sich frei nach Nestroy einfach einen Scherz machen? Was bewegt ihn wirklich?

Steht der Bürgermeister zur Wiederwahl an, wird die fehlende Alternative beklagt. Die schlechte Wahlbeteiligung ist somit begründet. Wenn der Nachbarschultes ein paar Wochen später 95 Prozent bei 70 Prozent Wahlbeteiligung einfährt, war das ein großartiger Vertrauensbeweis. Zudem stehen die Ergebnisse in einer anderen Lokalausgabe der Zeitung!

Ja, man gewöhnt sich an unter 50 Prozent. Oder nur noch knapp 40 Prozent. Doch dann passiert es! Da wird ein Dorfbürgermeister nach 16 Jahren glatt abgewählt. Und doch ist die Wahlbeteiligung kaum besser! Der Jubel um die Sensation ist so groß, dass einer vergessen wird, der Nichtwähler! Auch wenn es da die berühmte „Wechselmentalität“ gab, blieb er dennoch weg. Und heute kräht kein Hahn mehr danach.

Ins Schleudern kommen die Argumentationskünstler, wenn der Posten frei wird und eine halbe Fußballmannschaft die Nachfolge antreten will. Da wackelt das Rathaus und der Pressewahlkampf tobt. Doch die Wahlbeteiligung bleibt bei rund 50 Prozent und wird auch im zweiten Wahlgang höher. Wen juckts? Dabei sagen alle: Was ist dem Bürger näher als das eigene Rathaus? Die sogenannte „Schlaglochdemokratie“ funktioniert offenbar nicht. Und Gemeinderatskandidaten muss man sich für das kommende Jahr schon zusammenkratzen.

Nun sagt man, das eine ist das Dorf, das andere die Stadt. Da werden die Analytiker gleich in Serie Lügen gestraft: Erst Konstanz, dann Singen, jetzt Radolfzell – die 50-Prozent-Hürde ist nicht mehr zu knacken. Woran lag es? Etwa daran, dass Rot-Grün mit dem Ausgang der Wahlen nichts zu tun hatte? Am Ende blieb das bürgerliche Lager letztlich unter sich. Das war dann schon wieder ein Hauch von Bundestagswahl: Ein großer Abstand nach Merkels „großer Mitte“ – gefühlt und auch gezählt.

Und wieder begann das Rätselraten: In Singen sei die schlechte Wahlbeteiligung Folge eines schmutzigen Wahlkampfes gewesen. In Radolfzell seien die Konturen zwischen den Kandidaten kaum und dann zu spät sichtbar gewesen. Zudem hätten viele eben mit einem zweiten Wahlgang gerechnet! Diese Spekulation gab es 1969 schon in Singen – und dann hatte Friedhelm Möhrle plötzlich Theopont Diez auf einen Rutsch beerbt. Dann war es angeblich eine versuchte „Denkzettelwahl“, die völlig daneben ging!

Ja, der Wähler ist weiter „das unbekannte Wesen“. Mit wie viel Informationen ist er bereits zufrieden? Will er Ehrlichkeit oder reicht ihm die Ankündigung davon? Braucht er nur ausreichend emotionales „Futter“, um am Stammtisch eine Runde pseudointellektuellen Spaß‘ zu haben? Ein großer Teil unserer Mitmenschen fühlt sich in einer Spaßgesellschaft ausgesprochen wohl. Wie weit dazu Wahlkämpfe gehören, bleibt offen. Außer es gilt das Motto: Schlag den Raab!“

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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