Ausstellung für drei Wochen im Rathaus Singen
"Die ganze Welt soll wissen, was passiert!"

Marcel Da Rin (li.) von der Singener Kriminalprävention begrüßt die Journalisten Till Mayer (Mitte) und den gebürtigen Singener Marcus Welsch im Bürgersaal des Rathauses zur Veranstaltung, die vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstützt wird. | Foto: Bernhard Grunewald
6Bilder
  • Marcel Da Rin (li.) von der Singener Kriminalprävention begrüßt die Journalisten Till Mayer (Mitte) und den gebürtigen Singener Marcus Welsch im Bürgersaal des Rathauses zur Veranstaltung, die vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstützt wird.
  • Foto: Bernhard Grunewald
  • hochgeladen von Oliver Fiedler

Singen. "Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit" lautet ein geflügeltes Wort seit dem Ersten Weltkrieg. Einseitige Propaganda und gezielte Unwahrheiten gehören seit jeher zum Kriegshandwerk. Der gebürtige Singener Marcus Welsch und Till Mayer aus Bamberg, beides langjährig erfahrende Journalisten, gingen am Freitagabend im gut besuchten Bürgersaal des Rathauses nun der Frage nach, ob eine seriöse Berichterstattung über den Krieg mitten in der Ukraine möglich ist. Marcel Da Rin von der Singener Kriminalprävention (SKP) hatte zur Veranstaltung eingeladen, welche vom Bundesprogramm "Demokratie leben" des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend unterstützt wurde. Er konnte die Landtagsabgeordneten Dorothea Wehinger (Bündnis 90/Die Grünen), die langjährige CDU-Gemeinderätin und Ex-Landtagsabgeordneten Veronika Netzhammer sowie Gemeinderätin Angelika Berner-Assfalg (CDU) begrüßen - dies in Anwesenheit von Dr. Carmen Scheide, Singens ehrenamtlicher Partnerschaftsbeauftragten für Kobeljaky/Ukraine, sowie von Evgenij Starchak, Vorsitzender des neu gegründeten Ukrainischen Vereins in Singen.

Welsch beschäftigt sich als Filmregisseur und Journalist seit 2014 mit der Ukraine, die er 2015 das erste Mal bereiste. Wie auch bei Mayer, der bereits 2007 das im Westen der Ukraine liegende Lwiw erkundete, galt das Interesse zunächst der Aufarbeitung der Schicksale von Opfern der Konzentrationslager und Zwangsarbeitern der Nationalsozialisten. Mit der Zuspitzung der Bedrohung durch Russland, dem brutalen Überfall auf den souveränen europäischen Nachbarn und dem seitherigen Kriegsgeschehen gilt ihr Interesse "jetzt erst recht", so Welsch, den Menschen in der Ukraine.

Mayer war zuvor bereits seit Jahrzehnten auf europäischen und afrikanischen Kriegsschauplätzen als Fotojournalist aktiv - nun ist er seit sieben Jahren im Donbas unterwegs und etwa alle sechs Wochen mitten im Kriegsgeschehen vor Ort, da er über langjährige Militärkontakte verfügt und ihm dort Vertrauen entgegengebracht wird. Der russische Einmarsch überraschte ihn in Afghanistan, von wo aus er unmittelbar nach Kiew reiste und mit ersten Aufnahmen die Bombardierung ziviler Ziele durch die Invasoren dokumentierte.

Still und gebannt folgten die Anwesenden seiner Foto-Präsentation auf der großen Leinwand im Bürgersaal, wobei Mayer zu jeder Aufnahme Hintergründe schilderte und erklärte - schwer erträgliche Bilder, an Dramatik, Leid und Tragik kaum zu überbieten. Lange wird ein Foto in Erinnerung bleiben: Eine Mutter, Jelena, vor dem Grab ihres von Russischen Soldaten grundlos getöteten Sohnes, dessen Leiche sie mitten im eigenen Garten am Haus begraben musste. Apokalyptische Szenen - "Wie gehst Du damit um?" wird er von Welsch gefragt. Es ist "der Wunsch nach Gerechtigkeit", so Mayer, neben "dem Geschenk des Erzählens", welches ihn antreibe. Bereits sechs Jahre Krieg in der Ukraine seien auch Folge "unseres Wegschauens, denn der Krieg hätte bereits 2014 verhindert werden können".

Welsch, der auch oft im Donbas war, in Butscha, in Charkiw, aber keinen Zugang zum Frontgeschehen suchte, fand im offiziellen Berlin durch seine vielfältigen Interviews noch 2021 eine Stimmungslage vor, die nicht mit Putins Angriff rechnete - eine Putin-Dämmerung hätte gleichwohl früher erkannt werden können. Als Journalist im Krieg zu arbeiten, bedeutet für Mayer gründliche Vorbereitung bei der Zielauswahl und Logistik, legt er doch bis zu 4000 Kilometer in drei Wochen zurück. Sein guter Kontakt zum Militär hilft ihm dabei. Fotos, die jedoch Hinweise auf Stellungen oder Ausrüstung geben, verbieten sich zum Schutz aller Beteiligten. "Es wird keine Zensur ausgeübt, aber ich bekomme Hinweise auf Gefährdung, die ich respektiere", so Mayer. Beide Journalisten zeigten sich überrascht angesichts der offenen Kommunikation mit dem ikrainischen Militär. Mayer schätzt aus eigenem Erleben die Bereitschaft und den Kampfeswillen auch der Internationalen Bataillone in der Ukraine höher ein als jenen der Wagner-Armee. Aktuell sieht er nur noch sinnlose Zerstörung und Trümmer im Donbas, hält Putin und dessen Kriege gegen zum Beispiel Tschetschenien, Georgien und die Ukraine jedoch für "den größten Nationen-Bilder, denn gerade junge Menschen haben keinen Bock auf Putin". So werden die Kämpfe absehbar weitergehen, bei denen auch seine Freunde leiden und sterben - ein Nachgeben würde Putins Absichten nicht beenden, "er versteht nur klare Kante", so Mayer.

Welsch sieht einen Pulverdampf besonderer Art, aus dem sich bereits ein neuer Journalismus ergeben hat: Die akribische Auswertung vorhandener Detailinformationen aus sozialen Netzwerken, "eine schier unglaubliche Fleißarbeit" beim Zusammenfügen und Auswerten von Einzelfakten, mit denen sich komplexe Vorgänge auch auf dem Schlachtfeld abbilden lassen - so zum Beispiel die Verlegung und das Aufsteigen von russischen Flugzeugen mit Marschflugkörpern, um die knappe Vorwarnzeit zu erhöhen. Auch das Publikum stellte Fragen, unter anderem jene nach Chancen zur Beendigung des Krieges. "Sehr schwer zu beantworten", wie Welsch meinte. "Es kann vom Grad der Erschöpfung der Armeen, der weiteren Rekrutierung und Waffennachlieferungen abhängen, sicherlich vor allem von der Kampfmoral."

Till Mayer unterstrich zum Schluss, dass selbst sein Mut in Kampfgebieten nur "eine kleine Nummer" sei im Verhältnis zum ukrainischen Mut von Journalisten und Kämpfern vor Ort. Sein Fazit: "Bitte nicht Besetzung mit Frieden verwechseln - es gibt keinen Frieden ohne Freiheit!" Marcus Welsch wies auf die bestehende Angst in der Ukraine hin, "vergessen zu werden". Welsch ermutigte die Anwesenden, bestehende ukrainische Kontakte nicht aufzugeben, sondern zu nutzen. Er schloss mit den Worten: "Ganz wichtig ist zu fragen - '...wie geht es Ihnen?'"

Marcel Da Rin zeigte sich, wie die BesucherInnen insgesamt, "tief beeindruckt" von den authentischen Berichten der beiden Journalisten und wies abschließend auf die nunmehr eröffnete Foto-Ausstellung von Till Mayer hin, welche "hautnah zeigt, was in der Ukraine passiert". Drei Wochen lang sind nun die Bilder im Erdgeschoss und ersten Stock des Singener Rathauses zu sehen, versehen mit kurzen Hintergrund-Texten zu den jeweiligen Aufnahmen. Viele BesucherInnen ließen es sich nicht nehmen, einen von Till Mayer signierten Bildband zu erwerben.

Beeindruckend gelang Violistin Elisabeth Zaitseva vom Kyiv Symphonie Orchestra die Umrahmung der Veranstaltung mit einfühlsamen Stücken des ukrainischen Komponisten Myroslav Skoryk, Johann Sebastian Bachs "Adagio" sowie der Titelmelodie aus "Schindlers Liste" von John Williams. "Diese wichtige kulturelle Bildungsveranstaltung hat mich unheimlich bewegt", so Zaitseva, "die ganze Welt soll wissen, was passiert."

Autor:

Bernhard Grunewald aus Singen

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

Kommentare

Kommentare sind deaktiviert.
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.